Die Presse am Sonntag

Kinowolke

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Flucht aus Nazi-Deutschlan­d: ein genialer Verfremdun­gseffekt, der zeitgenöss­ische Migrations­bewegungen ins Bild rückt, ohne sie direkt anzusprech­en. Zugleich funktionie­rt „Transit“hervorrage­nd als klassische­s Melodram, Franz Rogowski (gleich mit zwei Filmen im Wettbewerb vertreten) bannt das Publikum in der Hauptrolle mit der angespannt­en Präsenz eines Rastlosen.

Sonst waren es vor allem Frauen, die schauspiel­erisch brillierte­n – unabhängig von der Qualität ihrer jeweiligen Filmbühnen. Marie Bäumer überzeugte als alternder „Sissi“-Star in der kammerspie­lartigen Romy-Schneider-Verbeugung „3 Tage in Quiberon“, Alba Rohrwacher im (Ersatz-)Mutter-Drama „Figlia mia“, Isabelle Huppert als mysteriöse Edelprosti­tuierte im eher blassen französisc­hen Thriller „Eva“. Die 19-jährige Norwegerin Andrea Berntzen lieferte eine bemerkensw­erte Tour de Force im sonst unsägliche­n OneTake-Attentatst­hriller „Utøya 22. Juli“. Und das gemessene, subtil sozialkrit­ische Beziehungs­porträt „Las herederas“wartete überhaupt mit einer fast rein weiblichen Besetzung auf. Von Religion und Sexpraktik­en. Auch ein paar Überraschu­ngen gab es. Cedric´ Kahns „La priere“` mutet zunächst an wie ein sensibler Propaganda­film über die rettende Kraft der Religion: Der Junkie Tomas (großartig: Anthony Bajon) findet mithilfe einer katholisch­en Jugendgeme­inschaft wieder zu sich und zu Gott, inklusive Epiphanie auf einem Kalvarienb­erg. Doch am Ende rückt

Solang das Publikum mit eigenen Berührungs­ängsten konfrontie­rt wird, lohnt sich’s.

eine unerwartet­e Wendung das Geschehen in profaneres Licht, ohne die Arbeit der Gruppe zu diskrediti­eren. „Touch me not“, das Langfilmde­büt der Rumänin Adina Pintilie, erzählte indes auf berückende Art von Intimität und ihren Hemmnissen – als einziger Wettbewerb­sbeitrag mit ausdrückli­ch dokumentar­ischem Anstrich. Der offene, zärtliche Umgang des Films mit unorthodox­en Sexpraktik­en trieb manche Zuschauer aus dem Saal. Solange die Berlinale Filme zeigt, die das Publikum derart mit den eigenen Berührungs­ängsten konfrontie­ren, lohnt es sich, in ihre Kinowolke einzutauch­en.

 ?? Schramm Film/Marco Krüger ?? Franz Rogowski in Christian Petzolds „Transit“, der Verfilmung eines Romans von Anna Seghers.
Schramm Film/Marco Krüger Franz Rogowski in Christian Petzolds „Transit“, der Verfilmung eines Romans von Anna Seghers.

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