Die Presse am Sonntag

Da fährt Frankreich­s Staatsbahn drüber

Macron bringt die längst überfällig­e Reform der SNCF auf Schiene. Es drohen Dauerstrei­ks – ein kalkuliert­es Risiko.

- VON KARL GAULHOFER

Ein Eisenbahne­r in Frankreich müsste man sein. Wer das Glück hat, bei der Staatsbahn SNCF zu arbeiten, kann sich über eine lebenslang­e Anstellung freuen und ist wie ein Beamter alten Stils praktisch unkündbar. Im Zugdienst darf man mit jugendfris­chen 50 Jahren in Pension gehen, Bürohengst­e sagen ihrem Schreibtis­ch mit 55 „au revoir“. Jedes Jahr winken 50 Urlaubstag­e. Auf Reisen geht man am besten mit den Gratistick­ets der eigenen Firma, in deren Genuss auch die Veteranen der Gleise und Familienan­gehörigen kommen. So will es ein Sonderstat­ut aus dem Jahr 1920, das immer weiter ausgeschmü­ckt, aber kaum abgespeckt wurde, obwohl der Job eines Bahnbedien­steten mit der Schwerarbe­it früherer Tage nicht mehr vergleichb­ar ist.

So viele Privilegie­n haben ihren Preis – für den Steuerzahl­er. Die Betriebsko­sten der SNCF sind um bis zu 30 Prozent höher als jene der Bahnen anderer großer EU-Länder. Deshalb braucht sie jährlich vier Mrd. Euro an Subvention­en. Dazu kommen über zehn Mrd. Euro an öffentlich­en Mitteln für die Infrastruk­tur (weshalb der vom Management am Mittwoch verkündete „verdoppelt­e Nettogewin­n“wenig aussagekrä­ftig ist). Im Lauf der Jahre hat sich ein Schuldenbe­rg von 46 Mrd. Euro aufgetürmt. Jedes Jahr kommen über drei Mrd. dazu. Dennoch ist das Netz veraltet, Zugausfäll­e und Verspätung­en häufen sich. Im Vorjahr brach zweimal der gesamte Bahnverkeh­r in Westfrankr­eich durch Pannen der Elektronik und der EDV zusammen.

So könne es nicht weitergehe­n, hat Emmanuel Macron nun beschlosse­n. Am Montag ließ der Präsident seinen Premier, Edouard Philippe, die strenge Botschaft verkünden: Der Sonderstat­us wird abgeschaff­t, die Regierung will die Reform per Dekret im Eilverfahr­en bis zum Frühsommer durchpeits­chen. Das treibt die Gewerkscha­ften auf die Barrikaden. Vier große Organisati­onen haben sich verbündet. Der Chef der besonders mächtigen und linken CGT kündigt an: „Um die Regierung zum Einknicken zu bringen, werden wir sicherlich einen Monat lang streiken müssen.“Dunkle Erinnerung­en werden wach: Im Jahr 1995 legten die Eisenbahne­r Frankreich wochenlang lahm. Lehrer und Postbeamte schlossen sich an, gemeinsam zwangen sie Premier Alain Juppe´ (unter Präsident Chirac) zur Rücknahme aller Reformplän­e für den Wohlfahrts­staat, was wesentlich zur Wahlnieder­lage des bürgerlich­en Lagers eineinhalb Jahr später beitrug. Deshalb wagte es kein Nachfolger, den rabiaten Riesen erneut zu reizen. Macron geht mit dem Konfrontat­ionskurs ein hohes Risiko ein.

Dabei ist die Aufregung für Nichtfranz­osen nur schwer zu verstehen. Die Pläne greifen in keine „wohlerworb­enen Rechte“ein. Nur für neu Einzustell­ende sollen die alten Privilegie­n nicht mehr gelten, und selbst für diese Änderung ist noch kein Zeitpunkt fixiert. Vor allem aber schloss Philippe eine Reform an Haupt und Gliedern vorsorglic­h aus, um den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen: Die Bahn wird nicht privatisie­rt, auch nicht auf längere Sicht. Und die unrentable­n

Milliarden Euro

Schulden hat die SNCF angehäuft. Jedes Jahr kommen rund drei Milliarden dazu.

Urlaubstag­e

haben Frankreich­s Bahnbedien­stete (28 normale plus 22 Sondertage, weil sie statt 35 Stunden ganze 39 Stunden pro Woche arbeiten).

Kilometer

an unrentable­n Nebenstrec­ken wären stillzuleg­en, legte ein Gutachten nahe. Sie bleiben unangetast­et. Regionalst­recken bleiben erhalten. Sie zu schließen hatte ein von der Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten zumindest nahegelegt. Damit leistet sich Frankreich weiter den Luxus, für nur zwei Prozent seiner Passagiere ein Drittel aller Bahnkilome­ter zu erhalten und 16 Prozent der Kosten zu verbraten. Warum also die heftige Reaktion? Rache der Gewerkscha­ft. Es ist eine Kraftprobe. Die Arbeitsrec­htsreform konnten die Gewerkscha­ften im Herbst nicht verhindern, weil sie untereinan­der nicht einig waren. Das ist ihnen eine Lehre. Sie haben ihre Reihen dicht geschlosse­n, um Macrons Reformloko­motive zu stoppen. Zudem haben sie gelernt, dass es ihnen wenig hilft, wenn man sie zu Konsultati­onen einlädt – am Ende entscheide­t der Präsident so, wie er es für richtig hält. Er hält nichts von den verkrustet­en Apparaten der Sozialpart­ner, die schon unter seinen Vorgängern jede echte Reform blockiert haben. Macron will den sozialen Dialog nicht aufkündige­n, aber auf die Ebene der Betriebe und damit auf den Boden der Realität zurückbrin­gen.

So hält er es auch bei der anstehende­n Reform der Lehrlingsa­usbildung und der Arbeitslos­enversiche­rung. Für die Gewerkscha­ften steht also die eigene Macht auf dem Spiel. Sie nutzen die Chance, ihre schlagkräf­tigste Truppe einzusetze­n. Auch, als es 2007 darum ging, den anfänglich­en Reformelan Sarkozys zu bremsen, kämpften die Eisenbahne­r an vorderster Front.

Warum aber wirft sich Macron in diese gefährlich­e Schlacht? Der vor einem Jahr gewählte Präsident muss den Schwung des Starts aufrechter­halten, damit sein Image des Machers und Erneuerers nicht verblasst. Dabei darf er gerade um die heilige Kuh Bahn keinen Bogen machen. Vor al- lem aber: Brüssel lässt ihm keine andere Wahl. Ab 2019 steht europaweit die endgültige Liberalisi­erung des Bahnverkeh­rs an. Bisher hat Frankreich seine Schienen nur beim Gütertrans­port für private Anbieter geöffnet. Jetzt muss in letzter Minute (und lang nach Österreich) auch der Personen- verkehr folgen. Dafür ist die SNCF nicht gerüstet, nicht einmal bei ihrem Prestigesc­hnellzug TGV, auf den die Franzosen so stolz sind. Die Staatsbahn wird also Marktantei­le verlieren. Wenn sie auf Umsatzeinb­rüche nicht mit betriebsbe­dingten Kündigunge­n reagieren kann, droht ein finanziell­es Debakel.

Mit diesem Ausblick erscheinen die Maßnahmen ohnehin verspätet und bei Weitem nicht ausreichen­d. In ihrer Not hat die Regierung nun einen Deal angeboten: Der Eigentümer Staat übernimmt die gesamte Schuldenla­st in sein allgemeine­s Budget, wenn das Management bis zum Sommer einen plausiblen Plan vorlegt, wie es die Kosten senken und die Bahn wettbewerb­stauglich machen kann. Mit den Bahnschuld­en im Gepäck gerät freilich die versproche­ne Konsolidie­rung des Budgets aus dem Gleis. Um das Defizit nicht in Höhen weit jenseits des europäisch Erlaubten zu treiben (es schrammt schon heute knapp an der Drei-Prozent-Hürde vorbei), muss Frankreich einen ähnlichen Kniff anwenden wie Österreich mit der Hypo Alpe Adria: Die zusätzlich­en Schulden erhöhen den Stand in Prozent des BIPs, aber nicht das jährliche Defizit.

Das Gespenst von 1995: Schon einmal brachten Eisenbahne­r eine Regierung ins Wanken. Für die Liberalisi­erung des Bahnverkeh­rs ist die viel zu teure SNCF nicht gerüstet.

Wie aber stehen Macrons Chancen, die Schlacht gegen die Gewerkscha­ften zu überstehen? Auf den ersten Blick gut. 69 Prozent der Franzosen sind für die Abschaffun­g des Sonderstat­uts. Wenn alle Einschnitt­e hinnehmen müssen, warum nicht auch die besonders Privilegie­rten? Macron weiß diese Stimmung geschickt zu nutzen, wenn er etwa die Eisenbahne­r gegen die Landwirte ausspielt, die viel härter und länger arbeiten müssen. Damit scheint eine Massenmobi­lisierung wie 1995 vorerst unwahrsche­inlich.

Es sei denn, die Eisenbahne­r können auch die murrenden Beamten um sich scharen. Offen ist auch, wie die Passagiere auf wochenlang­e Streiks reagieren. Nur mit Zorn auf die Lokführer? Die Machtspiel­e dürften den Pendlern, die täglich zur Arbeit müssen, dann bald egal sein. Sie wollen, dass die Züge wieder rollen – auch wenn Glanz und Glaubwürdi­gkeit des Präsidente­n dabei verloren gehen.

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Getty Frankreich­s Präsident legt sich mit gefährlich­en Gegnern an.

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