Da fährt Frankreichs Staatsbahn drüber
Macron bringt die längst überfällige Reform der SNCF auf Schiene. Es drohen Dauerstreiks – ein kalkuliertes Risiko.
Ein Eisenbahner in Frankreich müsste man sein. Wer das Glück hat, bei der Staatsbahn SNCF zu arbeiten, kann sich über eine lebenslange Anstellung freuen und ist wie ein Beamter alten Stils praktisch unkündbar. Im Zugdienst darf man mit jugendfrischen 50 Jahren in Pension gehen, Bürohengste sagen ihrem Schreibtisch mit 55 „au revoir“. Jedes Jahr winken 50 Urlaubstage. Auf Reisen geht man am besten mit den Gratistickets der eigenen Firma, in deren Genuss auch die Veteranen der Gleise und Familienangehörigen kommen. So will es ein Sonderstatut aus dem Jahr 1920, das immer weiter ausgeschmückt, aber kaum abgespeckt wurde, obwohl der Job eines Bahnbediensteten mit der Schwerarbeit früherer Tage nicht mehr vergleichbar ist.
So viele Privilegien haben ihren Preis – für den Steuerzahler. Die Betriebskosten der SNCF sind um bis zu 30 Prozent höher als jene der Bahnen anderer großer EU-Länder. Deshalb braucht sie jährlich vier Mrd. Euro an Subventionen. Dazu kommen über zehn Mrd. Euro an öffentlichen Mitteln für die Infrastruktur (weshalb der vom Management am Mittwoch verkündete „verdoppelte Nettogewinn“wenig aussagekräftig ist). Im Lauf der Jahre hat sich ein Schuldenberg von 46 Mrd. Euro aufgetürmt. Jedes Jahr kommen über drei Mrd. dazu. Dennoch ist das Netz veraltet, Zugausfälle und Verspätungen häufen sich. Im Vorjahr brach zweimal der gesamte Bahnverkehr in Westfrankreich durch Pannen der Elektronik und der EDV zusammen.
So könne es nicht weitergehen, hat Emmanuel Macron nun beschlossen. Am Montag ließ der Präsident seinen Premier, Edouard Philippe, die strenge Botschaft verkünden: Der Sonderstatus wird abgeschafft, die Regierung will die Reform per Dekret im Eilverfahren bis zum Frühsommer durchpeitschen. Das treibt die Gewerkschaften auf die Barrikaden. Vier große Organisationen haben sich verbündet. Der Chef der besonders mächtigen und linken CGT kündigt an: „Um die Regierung zum Einknicken zu bringen, werden wir sicherlich einen Monat lang streiken müssen.“Dunkle Erinnerungen werden wach: Im Jahr 1995 legten die Eisenbahner Frankreich wochenlang lahm. Lehrer und Postbeamte schlossen sich an, gemeinsam zwangen sie Premier Alain Juppe´ (unter Präsident Chirac) zur Rücknahme aller Reformpläne für den Wohlfahrtsstaat, was wesentlich zur Wahlniederlage des bürgerlichen Lagers eineinhalb Jahr später beitrug. Deshalb wagte es kein Nachfolger, den rabiaten Riesen erneut zu reizen. Macron geht mit dem Konfrontationskurs ein hohes Risiko ein.
Dabei ist die Aufregung für Nichtfranzosen nur schwer zu verstehen. Die Pläne greifen in keine „wohlerworbenen Rechte“ein. Nur für neu Einzustellende sollen die alten Privilegien nicht mehr gelten, und selbst für diese Änderung ist noch kein Zeitpunkt fixiert. Vor allem aber schloss Philippe eine Reform an Haupt und Gliedern vorsorglich aus, um den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen: Die Bahn wird nicht privatisiert, auch nicht auf längere Sicht. Und die unrentablen
Milliarden Euro
Schulden hat die SNCF angehäuft. Jedes Jahr kommen rund drei Milliarden dazu.
Urlaubstage
haben Frankreichs Bahnbedienstete (28 normale plus 22 Sondertage, weil sie statt 35 Stunden ganze 39 Stunden pro Woche arbeiten).
Kilometer
an unrentablen Nebenstrecken wären stillzulegen, legte ein Gutachten nahe. Sie bleiben unangetastet. Regionalstrecken bleiben erhalten. Sie zu schließen hatte ein von der Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten zumindest nahegelegt. Damit leistet sich Frankreich weiter den Luxus, für nur zwei Prozent seiner Passagiere ein Drittel aller Bahnkilometer zu erhalten und 16 Prozent der Kosten zu verbraten. Warum also die heftige Reaktion? Rache der Gewerkschaft. Es ist eine Kraftprobe. Die Arbeitsrechtsreform konnten die Gewerkschaften im Herbst nicht verhindern, weil sie untereinander nicht einig waren. Das ist ihnen eine Lehre. Sie haben ihre Reihen dicht geschlossen, um Macrons Reformlokomotive zu stoppen. Zudem haben sie gelernt, dass es ihnen wenig hilft, wenn man sie zu Konsultationen einlädt – am Ende entscheidet der Präsident so, wie er es für richtig hält. Er hält nichts von den verkrusteten Apparaten der Sozialpartner, die schon unter seinen Vorgängern jede echte Reform blockiert haben. Macron will den sozialen Dialog nicht aufkündigen, aber auf die Ebene der Betriebe und damit auf den Boden der Realität zurückbringen.
So hält er es auch bei der anstehenden Reform der Lehrlingsausbildung und der Arbeitslosenversicherung. Für die Gewerkschaften steht also die eigene Macht auf dem Spiel. Sie nutzen die Chance, ihre schlagkräftigste Truppe einzusetzen. Auch, als es 2007 darum ging, den anfänglichen Reformelan Sarkozys zu bremsen, kämpften die Eisenbahner an vorderster Front.
Warum aber wirft sich Macron in diese gefährliche Schlacht? Der vor einem Jahr gewählte Präsident muss den Schwung des Starts aufrechterhalten, damit sein Image des Machers und Erneuerers nicht verblasst. Dabei darf er gerade um die heilige Kuh Bahn keinen Bogen machen. Vor al- lem aber: Brüssel lässt ihm keine andere Wahl. Ab 2019 steht europaweit die endgültige Liberalisierung des Bahnverkehrs an. Bisher hat Frankreich seine Schienen nur beim Gütertransport für private Anbieter geöffnet. Jetzt muss in letzter Minute (und lang nach Österreich) auch der Personen- verkehr folgen. Dafür ist die SNCF nicht gerüstet, nicht einmal bei ihrem Prestigeschnellzug TGV, auf den die Franzosen so stolz sind. Die Staatsbahn wird also Marktanteile verlieren. Wenn sie auf Umsatzeinbrüche nicht mit betriebsbedingten Kündigungen reagieren kann, droht ein finanzielles Debakel.
Mit diesem Ausblick erscheinen die Maßnahmen ohnehin verspätet und bei Weitem nicht ausreichend. In ihrer Not hat die Regierung nun einen Deal angeboten: Der Eigentümer Staat übernimmt die gesamte Schuldenlast in sein allgemeines Budget, wenn das Management bis zum Sommer einen plausiblen Plan vorlegt, wie es die Kosten senken und die Bahn wettbewerbstauglich machen kann. Mit den Bahnschulden im Gepäck gerät freilich die versprochene Konsolidierung des Budgets aus dem Gleis. Um das Defizit nicht in Höhen weit jenseits des europäisch Erlaubten zu treiben (es schrammt schon heute knapp an der Drei-Prozent-Hürde vorbei), muss Frankreich einen ähnlichen Kniff anwenden wie Österreich mit der Hypo Alpe Adria: Die zusätzlichen Schulden erhöhen den Stand in Prozent des BIPs, aber nicht das jährliche Defizit.
Das Gespenst von 1995: Schon einmal brachten Eisenbahner eine Regierung ins Wanken. Für die Liberalisierung des Bahnverkehrs ist die viel zu teure SNCF nicht gerüstet.
Wie aber stehen Macrons Chancen, die Schlacht gegen die Gewerkschaften zu überstehen? Auf den ersten Blick gut. 69 Prozent der Franzosen sind für die Abschaffung des Sonderstatuts. Wenn alle Einschnitte hinnehmen müssen, warum nicht auch die besonders Privilegierten? Macron weiß diese Stimmung geschickt zu nutzen, wenn er etwa die Eisenbahner gegen die Landwirte ausspielt, die viel härter und länger arbeiten müssen. Damit scheint eine Massenmobilisierung wie 1995 vorerst unwahrscheinlich.
Es sei denn, die Eisenbahner können auch die murrenden Beamten um sich scharen. Offen ist auch, wie die Passagiere auf wochenlange Streiks reagieren. Nur mit Zorn auf die Lokführer? Die Machtspiele dürften den Pendlern, die täglich zur Arbeit müssen, dann bald egal sein. Sie wollen, dass die Züge wieder rollen – auch wenn Glanz und Glaubwürdigkeit des Präsidenten dabei verloren gehen.