»Der Lehrer brachte uns zum Heldenplatz«
Als Adolf Hitler den »Anschluss« verkündete, sah Heinz Kienzl von einem Baum aus zu. Trotz der jüdischen Wurzeln seiner Mutter wurde der spätere Gewerkschafter nicht inhaftiert, warf Handgranaten – und schanzte KZ-Häftlingen Nahrung zu.
1938 waren Sie 16 Jahre alt. Wie hat sich dieses Jahr auf Ihr Leben ausgewirkt? Heinz Kienzl: Ich erinnere mich an die jubelnden Massen – wir selbst mussten Teil davon sein, auch wenn ich nie gejubelt habe. Unser Lehrer brachte unsere Klasse zum Heldenplatz, um Adolf Hitler genug Publikum zu bieten. Sie sprechen vom 15. März 1938, als er von der Neuen Burg aus den „Anschluss“Österreichs an das Deutsche Reich verkündete? Ja. Der Heldenplatz war bummvoll. Wir waren gute Turner und sind gleich auf die Ringstraßenbäume hinaufgeklettert. Hitler hielt seine Rede, die Menschen schrien. Sie dachten, sie marschieren jetzt mit den Deutschen in ein Paradies, doch sie sind in die Hölle gegangen – in den Zweiten Weltkrieg. Kanzler Kurt Schuschnigg wollte noch am 9. März 1938 eine Volksabstimmung durchführen, die Stimmung war pro freies Österreich. Die Nazis verhinderten die Abstimmung, der „Anschluss“folgte und wurde bejubelt. Wie konnte die Stimmung so schnell kippen? Die Erste Republik war von Beginn an dem Untergang geweiht, das Schuschnigg-Regime war eine blanke Katastrophe. Die Bevölkerung war entzweit, arbeitslos. Mit dem Machtwechsel hofften viele auf Arbeit und Besserung. Die Parole lautete: „Der Kurt ist furt, jetzt geht’s uns guat.“Die Propaganda, die von den Nazis perfekt betrieben wurde, tat ihr Übriges. Zehn-, wenn nicht hunderttausende Plakate und Flugblätter überströmten das Land. Juden mussten das „Ja zu Österreich“von den Straßen waschen. Waren Sie betroffen? Nein. Meine Mutter hat jüdische Wurzeln, sie wollte vom Judentum aber nie etwas wissen. Mein Vater war katholisch, ist irgendwann konvertiert. Wir sind alle evangelisch. Trotzdem musste ich sieben Jahre lang Angst haben, dass sie meine Mutter umbringen. Über das, was man auf den Straßen sah, sprach man nicht. In der Familie und auch sonst wurde geschwiegen. Es galt: „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm.“ Wie veränderte sich Ihr Alltag? Zunächst kaum. Gut ein Drittel meiner Klassenkameraden war schon längst bei der illegalen Hitlerjugend gewesen. Die Lehrer schwärmten vom Krieg, sie haben die Burschen kampfgeil ge- macht. Im Turnunterricht lernten wir, Handgranaten zu werfen. Kein Wunder, dass sich 18 Mitschüler freiwillig zum Wehrdienst gemeldet haben, nur sechs kamen aus dem Krieg wieder zurück. Sie arbeiteten als Freileitungselektriker bei der Technischen Nothilfe, einer vom Deut- schen Reich unterhaltenen Organisation, die zerstörte kriegswichtige Einrichtungen wieder instand setzte. Wie kam das? Es gibt eine Familienlegende, ich weiß nicht, ob sie stimmt. Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg einem Verwundeten das Leben gerettet, der Polizeikommissar in Ottakring wurde. Nach dem An-
Heinz Kienzl
wurde am 8. Oktober 1922 in Wien geboren. Er hat eine Schwester.
1938
erlebte Kienzl die „Anschluss“-Rede am Heldenplatz mit.
1941/42
war Kienzl an der Hochschule für Welthandel inskribiert, wurde wegen seiner jüdischen Vorfahren exmatrikuliert und zur Technischen Nothilfe eingezogen. Nach dem Krieg setzte er sein Studium fort.
Ab 1947
war er im Österreichischen Gewerkschaftsbund tätig, später gewählter Arbeiterkammerrat. Von 1973 bis 1988 war Kienzl Generaldirektor, dann Erster Vizepräsident der Österreichischen Nationalbank. schluss stellte sich heraus, dass er ein Nazi war. Ich glaube, ihm haben wir einiges zu verdanken. Zehntausende andere wurden inhaftiert und deportiert. Wie haben Sie diese Vorgänge als Jugendlicher erlebt? Ich habe viel Leid gesehen, vor allem, als ich durch die Technische Nothilfe nach St. Georgen an der Gusen kam. Wir hausten in einem Barackenlager neben dem Konzentrationslager. Von 1944 bis 1945 gab es im KZ Gusen mehr Häftlinge und Opfer als im KZ Mauthausen. Was wusste man außerhalb der Mauern von den Massenmorden? Wir bauten dort eine Freileitung nach Mauthausen und kamen durch diese Arbeiten in Kontakt mit Häftlingen. Da wir genug zu essen hatten, haben wir hin und wieder Nahrung in ein Sackerl gegeben und in die Stollen gelegt. Einmal zitierte uns unser Kommandant zu sich. Die Gestapo hatte ihn gefragt, wer das Essen schmuggelte. Er hat sich für uns verbürgt – „Von meinen Leuten war das keiner“, sagte er – wir kamen tatsächlich davon. Haben Sie das Schmuggeln eingestellt? Wir haben besser aufgepasst. Es war sehr schwierig, überall wurde man beobachtet. An einen SS-Mann kann ich mich sehr genau erinnern. Er hatte nur einen Arm, was ihn aber nicht davon abhielt, auf die Häftlinge einzuprügeln, wenn ihm etwas nicht passte. Blieben Sie bis zum Kriegsende in St. Georgen an der Gusen? Ich war all die Jahre über in Oberösterreich. Kurz vor der Befreiung fuhren wir mit dem Lastkraftwagen nach Aschach. Wir sollten Lebensmittel holen und sie nach Engelhartszell bringen. Am Weg dorthin, es war der 2. Mai 1945, sahen wir schon auf der anderen Seite des Donauufers amerikanische Panzer anrollen. Zum Glück haben sie nicht auf uns geschossen. Sie hatten mehrfach Glück. Das kann man wohl sagen. Ich habe überlebt, meine Eltern – die Mutter war im Zwangsdienst in der Wäscherei, mein Vater Drogist – ebenfalls. Zurück in Wien habe ich an der Hochschule für Welthandel studiert. Konnte man das Erlebte so leicht abhaken? Bis heute nicht, das ist vermutlich mit ein Grund, warum es mich hin zur Gewerkschaft, zur Politik gezogen hat. Ich wollte sicherstellen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Schon auf der Uni habe ich mich den Sozialistischen Studenten angeschlossen, kannte bald Bruno Kreisky, Fred Sinowatz, dann auch Adolf Schärf und Theodor Körner. Was empfinden Sie, wenn Sie heute über den Heldenplatz gehen? Die Debatte über seine Umbenennung finde ich unnötig. Für mich steht er für die Helden rund um die Erstellung des Staatsvertrages von 1955: Ich verbinde ihn mit Leopold Figl, Johann Böhm. Das sind meine Helden – bis heute.