Die Freiheit über den Köpfen
Von der Last der Geschichte, den Früchten der Selbstüberhebung – und wie ein Torso mitten in Wien Stadt und Land heute dienen kann: Heldenplatz, eine Annäherung.
Wie schön wäre Wien ohne Wiener“: Es ist nicht überliefert, ob Georg Kreisler, als er seinen Hymnus auf ein wienerloses Wien sang, auch an den Heldenplatz gedacht hat, an den Heldenplatz, wie er sich an jenem 15. März des Jahres 1938 präsentierte, als hier der „Anschluss“Österreichs an das Deutsche Reich verkündet wurde. Wie schön wäre dieses Wien an jenem Tag ohne Wiener gewesen – oder wenigstens dieser Heldenplatz. Doch sie waren da, die Wiener. Und die Bilder der begeisterten Massen, die sich dicht an dicht rund um die Denkmäler von Erzherzog Carl und Prinz Eugen ballen, im Kampf um die beste Aussicht auf den noch immer als „Führerbalkon“geläufigen Bauteil der Neuen Hofburg, machen bis heute eine unbefangene Auseinandersetzung mit Gestaltung und Nutzung dieser größten Freifläche im Herzen von Wien schon von vornherein unmöglich.
Dabei will es die Ironie, die den Zeitläuften des Öfteren eigen ist, dass sich mittlerweile ausgerechnet auf den so sehr symbolisch aufgeladenen sechs Hektaren Kreislers Vision von einem Wien ohne Wiener so gut wie nirgendwo sonst im Inneren der Stadt verwirklicht findet. Im Alltag wird man zwischen Burgtor und Leopoldinischem Trakt vielleicht Diplomaten auf dem Weg ins Kongresszentrum der Hofburg treffen oder, naturgemäß an so reiseführergepriesenem Ort, immer wieder Touristen. Die Zahl der Eingeborenen hingegen beschränkt sich auf Nutzer der Nationalbibliothek, dann und wann Besucher des Weltmuseums und gegenwärtig – auf begrenzte Zeit – Mandatare und Mitarbeiter unserer Volksvertretung auf dem Weg zu oder von den Verwaltungsprovisorien, die man angesichts der anstehenden Renovierung des Parlamentsgebäudes temporär vor dem Volksgarten abgestellt hat.
Als Treffpunkt der Einwohner dieser Stadt fungiert das weitläufige Areal ebenso wenig, wie es, mangels Gastronomie, zur Genussmeile taugt – und nicht einmal als Flanierzone ist es recht in Gebrauch. Am ehesten ließen sich die Grünflächen, umzingelt von so Gewichtigem wie Nationalbibliothek, Präsidentschaftskanzlei, und ja, irgendwann auch einem Haus der Geschichte, ihrer vorzüglichen Verwendung nach als imperialsten Hundezone der Welt definieren – diesbezüglich allseits beliebt bis hinauf zu höchster staatlicher Repräsentanz, wie ein seinen Flocki gassiführender Bundespräsident vergangenen Dezember vor Kameras bewies, unmittelbar vor Angelobung der Bundesregierung.
Dass die Last der Geschichte dem Einzug auch nur geringstmöglicher stadträumlicher Wohnlichkeit nicht eben förderlich ist, mag ein Grund sonstiger Vernachlässigung sein. Ein anderer allerdings – und ein nicht minder triftiger – ist dieser Eindruck fortwährender Vorläufigkeit, die dem Territorium eignet. So im Ungefähren, wie die Platzfläche unter den vordersten Volksgarten-Bäumen versickert, kann das ja nicht wirklich gedacht gewesen sein. War es auch nicht, wie mittlerweile schon weit jenseits architekturhistorischer Fachkreise geläufig.
Wir haben es halt, wie so oft, mit einem jener Ergebnisse hiesiger Selbstüberhebung zu tun, bei der hypertrophe Ambition an der nüchternen Realität allzu bescheidener Mittel zerschellt: So kam dem südostseitigen Flügel der Neuen Hofburg sein nordwestseitiges Pendant abhanden – und uns andererseits blieb ein „Kaiserforum“dazwischen erspart, das zwar fraglos komplett, aber in seiner drückenden Monumentalität womöglich noch lebloser wäre als der Torso, der auf unsere Zeit gekommen ist. Ein Torso, den weniger Vornehme womöglich typisch wienerisch, will sagen: Pfusch nennen könnten.
Einen Pfusch, dem man, weil’s scheinbar eh schon egal ist, dann eben auch Ausweichquartiere wie jene des Parlaments anhängen kann. Oder fruchtlose Namensdebatten: Wie viel Geschichtsvergessenheit steckt denn in der Idee, ausgerechnet etwas, was einst als „Kaiserforum“gedacht war, in „Platz der Republik“oder „Platz der Demokratie“umbenennen zu wollen? Ist denn unsere Demokratie noch hundert Jahre nach Ausrufung der Republik darauf angewiesen, die Leiche der Monarchie zu fleddern?
Das Grün rund um Prinz und Erzherzog: bloß die imperialste Hundezone der Welt? Platz zu haben: Das ist in den Städten des 21. Jahrhunderts das wohl wertvollste Gut.
Was über all dem leicht übersehen wird: dass dieser Heldenplatz, so, wie er ist, gerade für die unter immer drängenderer Platznot stöhnende Metropole des 21. Jahrhunderts etwas Singuläres zu bieten hat – nämlich Platz. Wo sonst öffnen sich mitten im sonst Dichtverbauten Blickdiagonalen von 700, 800 Meter Weite kreuz und quer über Grünflächen und Baumkronen hinweg – von dem, was es da alles an Ringstraßenglanz zu sehen gibt, gar nicht zu reden? Wo sonst bestünde mehr Raum, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen – und wo wäre dieser Raum besser investiert als im politischen Zentrum dieser Stadt und dieses Landes? Wie wunderbar zudem, dass dieser Raum – als letztes innerstädtisches Refugium – von zwanghafter Bespaßungsbemühung in Permanenz bisher verschont geblieben ist!
Belassen wir’s dabei – und genießen wir die Freiheit über den Köpfen, die der Freiheit in den Köpfen nur dienlich sein kann. Einer Freiheit, die genau an jenem Ort, der ihr heute nützt, vor 80 Jahren für immer verloren schien. Und deren Wert wir mittlerweile besser denn je schätzen können sollten.