Das Bangen vor der großen Baustelle
Nirgendwo sonst in Wien sind so viele kleine Unternehmer vom U-Bahn-Ausbau betroffen wie rund um die künftige U2-Station Neubaugasse. Der Angst vor Umsatzeinbrüchen durch die jahrelange Baustelle wollen sie nun mit kreativen Ideen begegnen.
Das Schreckgespenst, sagt Stephan Klein, sei langsam angeschlichen. Zwei oder drei Jahre habe es zuerst geheißen, dann waren es drei bis fünf – und nun dürften es, rechnet man die Vorarbeiten, die bereits losgegangen sind, und die Neugestaltung der Oberflächen danach mit, ganze acht Jahre werden.
Acht Jahre, bis 2026, wird es dauern, bis sich das nun doch ziemlich große Schreckgespenst, das sich „U-Bahn-Baustelle“nennt, wieder verzogen hat, die U2 auf ihrer neuen Strecke vom Rathaus über die Station Neubaugasse in Richtung Matzleinsdorfer Platz unterwegs sein wird, sämtliche Spuren der Bauarbeiten von der Oberfläche verschwunden sind – und das Grätzel eine Aufwertung erfahren wird.
In den nächsten Jahren wird an vielen Ecken Wiens gleichzeitig an Stationen und Strecken der neuen U5 und der U2 gebaut: Aber nirgendwo sonst sind so viele Händler und Gastronomen so unmittelbar betroffen wie rund um die Kirchengasse im siebenten Bezirk, wo unter anderem ein Abgang zur Station und Lifte entstehen: Eine jahrelange Baustelle, auch wenn es zwischendurch Phasen ohne Bauarbeiten geben wird, die für manche der kleinen Unternehmer in der Kirchen- und ihrer Nebengassen existenzbedrohend sein könnte. Lärm, Umleitungen, zeitweise Straßensperren, (noch) weniger Parkplätze, Baulöcher hier und dort: All das könnte, fürchten viele in der Gegend, die Kunden abschrecken, die Umsätze einbrechen lassen.
Stephan Klein, der mit seiner Frau, Beate, das Kindermoden- und -möbelgeschäft herr und frau klein in der Kirchengasse betreibt, will keine Hysterie verbreiten, aber: „Wir kämpfen ums Überleben der Unternehmer hier, da hängen viele Existenzen dran.“Denn anders als ums Eck auf der Mariahilfer Straße, wo soeben die Vorarbeiten für den U-Bahn-Bau begonnen haben (siehe Grafik), gibt es im Siebensternviertel – außer den Supermärkten – keine Filialen großer Ketten, die Umsatzeinbrüche leichter wegstecken könnten. „Hier haben sich in den vergangenen zehn Jahren fast nur Einzelunternehmen angesiedelt, das ist ja das Besondere an unserem Grätzel“, sagt Klein.
Auch Martina Pühringer, die mit dem Stahlwarengeschäft Franz Musick in der Lindengasse eine Institution in Neubau in vierter Generation führt, sorgt sich um das Grätzel: Kleine Unternehmer könnten aus Angst vor der Baustelle sperren und anderswo aufmachen. „Und die“, sagt Pühringer, „werden nach dem Umbau sicher nicht zurückkehren“– allein schon wegen der nach der U2-Anbindung zu erwartenden höheren Mietpreise. „Das wird sich von den Kleinen niemand leisten können.“Das Problem dabei: Siedeln mehrere ab, verliert das Viertel seinen besonderen Charme, der es bis in diverse Reiseführer geschafft hat – und von dem längst auch die Mariahilfer Straße dank kaufkräftiger Kunden, die die kleinen Läden anziehen, profitiert.
Für Pühringers Schleifgeschäft kommt ein Umzug nicht infrage: „99 Jahre an einem Standort, das kann man nicht woanders wieder aufbauen.“Wohl aber überlegt sie, während der Bauarbeiten eine zweite Filiale zu eröffnen, um die Umsatzeinbußen ab- zufedern und für ihre Kunden („Viele kommen mit dem Auto“) weiter gut erreichbar zu sein.
Stephan Klein will aber nicht in Panik verfallen („Das haben wir jetzt zwei Jahre lang gemacht, und es hat uns nichts gebracht“), sondern gemeinsam mit anderen Unternehmern die Initiative ergreifen: Soeben hat er einen (noch namenlosen) Betroffenenverein gegründet, in dem sich möglichst viele Unternehmer wiederfinden sollen. Der Verein soll zentraler Ansprechpartner für Wiener Linien und die Stadt sein, wenn es um Informationen und offene Fragen geht – vor allem aber Ideen entwickeln, wie man mit dem Schreckgespenst U-Bahn-Baustelle am besten klarkommen kann. „Wir sind aber“, betont Klein, „keine Bürgerinitiative gegen die U-Bahn. Wir wollen unsere Kräfte sammeln, bevor es richtig losgeht.“
So versucht man nun, Konzepte zu erarbeiten, wie die Kirchengasse trotz Baustelle attraktiv sein kann. „Wir wollen“, sagt die ebenfalls im Verein engagierte Vivien Sakura Brandl vom Modegeschäft Sight Store Vienna, „dass die Baustelle nicht nur als schmutzig, sondern vielleicht sogar als Erlebnis wahrgenommen werden kann. Und wir müssen die Kirchengasse im Vorfeld noch mehr ins Bewusstsein rücken und die Kunden an uns binden.“Auch wenn sie selbst immer wieder mit dem Gedanken spielt, während der Umbauzeit mit ihrem Geschäft abzusiedeln. „Ich habe jeden Tag ein anderes Gefühl. Niemand kann uns sagen, was die Baustelle wirklich bedeuten wird, aber dass sie ein große Belastung wird, das kann niemand negieren.“
Die Sorgen und Ängste – auch der Bewohner, für die etwa die geplanten Bauzeiten von sechs bis 22 Uhr eine enorme Belastung bedeuten – nimmt man bei den Wiener Linien ernst. „Die Baustelle geht einmal quer durch die Stadt“, sagt Sprecherin Johanna Griesmayr. „Sie wird an niemandem vorübergehen.“Auch Griesmayr sagt, dass das Siebensternviertel aufgrund seiner dichten Bebauung und der vielen kleinen Händler besonders stark betroffen ist. Mit der letzten U1-Erweiterung am Stadtrand (oder dem U2-Ausbau nach Aspern) ist die kommende Erweiterung des U-Bahn-Netzes nicht ansatzweise vergleichbar, weil ungleich herausfordernder, auch was die Bauarbeiten selbst betrifft (siehe Artikel rechts). Um die Händler zu unterstützen, planen die Wiener Linien jedenfalls „Aktionen“, welche genau, werde man gemeinsam erarbeiten. Eine Idee: Kunden, die im Grätzel eingekauft haben, könnten gegen Vorweis der Rechnung eine Baustellenführung bekommen.
Es gebe jedenfalls bis zum Baustellenbeginn noch viel zu tun, findet auch der grüne Bezirksvorsteher von Neubau, Markus Reiter. Er kündigt kulturelle und kreative Aktionen an, um das Grätzel im Bewusstsein der Leute zu verankern. Gefragt seien aber auch die Stadt Wien und die Wirtschaftskammer, um Anrainer und Unternehmer nicht im Stich zu lassen. „Der Siebente ist der Kreativbezirk, da sprühen die Unternehmer alle vor Ideen und Willen“– es gelte, diese auch einzubinden. Und „bestmöglich zu informieren. Da wird es nicht reichen, eine nette Broschüre zu machen.“Notwendig seien detaillierte Informationen, „wann wo
Siedeln mehrere Händler ab, verliert das Viertel seinen besonderen Charme. Die Unternehmer sammeln Ideen, wie die Straße trotz Baustelle attraktiv bleibt.
welche Zufahrt gesperrt und welches Loch gegraben wird“. Neuer Stationsname? Details, die man vorerst schuldig bleiben muss, da die einzelnen Aufgaben noch gar nicht ausgeschrieben wurden. Der grobe Zeitplan freilich steht: Die Vorarbeiten werden auf der Mariahilfer Straße bis Mitte 2019 dauern, in der Zollergasse sollen sie bis zum Sommer 2018 fertig sein, um dem Cafe´ Europa und Co. eine Gastgartensaison zu ermöglichen. Richtig los geht es dann etwa Mitte 2019 in der Lindengasse, Mitte 2020 wird es in der Kirchengasse ernst. Indirekt betroffen durch Umleitungen und Baufahrzeuge werden aber auch die umliegenden Gassen wie die Stift- und Mondscheingasse sein. Die für die Station namensgebende Neubaugasse bleibt wohl weitgehend verschont. Apropos Stationsnamen: Bezirksvorsteher Reiter und viele Unternehmer wünschen sich, dass nach der U2-Eröffnung die Station Neubaugasse/Kirchengasse heißen soll. Die für die Öffis zuständige Stadträtin Ulli Sima (SPÖ) zeigt dafür eher kein Verständnis: Der Name Neubaugasse sei gut etabliert, heißt es aus ihrem Büro, „Doppelnamen werden an sich vermieden“.
Eine finanzielle Unterstützung für von Umsatzeinbußen betroffene Unternehmen wird es jedenfalls geben: Zuständig ist die Wirtschaftsagentur, die einen U-Bahn-Fonds verwalten wird, der von der Stadt und der Wirtschaftskammer finanziert wird. Um welche Summen es sich handeln wird, stehe noch nicht fest, sagt eine Sprecherin. Ab dem Sommer soll aber der Fördertopf „umsetzungsbereit“sein – und sehr niederschwellig funktionieren. Darüber hinaus soll es weitere Förderungen geben – etwa für Firmen, die während der Baustelle kurzfristig anderswo einen Pop-up-Store eröffnen wollen. Unabhängig davon kann jeder Unternehmer (und auch Anrainer) bei seinem Vermieter um eine Mietzinsminderung aufgrund der Belastung durch die Baustelle ansuchen: Ob sich das viele antun werden – Stichwort mögliche Gerichtskosten –, ist eine andere Frage.
Ein Fonds soll die kleinen Händler während der Bauzeit finanziell unterstützen.
Ob finanzielle Hilfe und kreative Ideen reichen werden, um die Folgen der U-Bahn-Erweiterung abzufedern? Vergleichbare Erfahrungen gibt es kaum: Die Umgestaltung der Mariahilfer Straße zur Fußgänger- und Begegnungszone war deutlich kürzer – und zudem nicht direkt vor den Türen der kleinen Händler in den Nebengassen. Und der Ausbau der U3 unter der Mariahilfer Straße Anfang der 1990er liegt lang zurück – „war aber damals schon dramatisch“, erinnert sich Barbara Sickenberg, die in der Kirchengasse die Institution Edelhausrat Niessner betreibt. Allerdings lagen Mariahilfer Straße – die damals ob der ungarischen (Ramsch-)Läden den Spitznamen Magyarhilfer Straße bekam – und die Nebengassen damals sowieso eher brach. Der Aufschwung kam erst später, nach und dank U3-Anbindung.
Auch deshalb sieht Sickenberg die U2-Baustelle nicht so pessimistisch wie andere. „Keine Frage: Es wird dreckig, es wird laut. Aber im Großen und Ganzen wird es halb so wild“, glaubt sie. Und ist die U2-Station erst eröffnet, werden Tausende Fahrgäste täglich direkt in der Kirchengasse vis-a-`vis von ihrem Laden über die Treppen und Lifte in die Kirchengasse kommen: „Und das“, sagt Sickenberg, „wird natürlich nicht schlecht fürs Geschäft sein.“