Mutters bleierne Beine
In »Heiße Milch« fühlt die Schriftstellerin Deborah Levy einer ungesunden Mutter-Tochter-Beziehung auf den Zahn. Es ist die Geschichte einer Abnabelung, gemütsvoll erzählt.
Möglich, dass Sofia die Warnflagge absichtlich nicht sieht, als sie weit ins Meer hinausschwimmt und dort, wieder einmal, Bekanntschaft mit den Quallen macht, die mit ihren giftigen Tentakeln ihre Haut lädieren. Tagelang brennen Arme und Rücken, trotz der Salbe, die der Rettungsschwimmer aufträgt, ein Student mit Vollbart namens Juan, der Sofia irgendwie zu interessieren scheint. Die Quallen fügen Sofia echte Schmerzen zu, wiewohl sich ihr ganzes Leben um Schmerzen dreht, oder besser gesagt um die ihrer Mutter. Sofia leidet mit Phantomverletzungen mit. Wenn die Mutter hinkt, hinkt sie auch, sie gleicht ihren gesunden Körper an einen kranken an.
Sie heißt Sofia Papastergiadis, ist Mitte 20 und hat ihre AnthropologieDissertation abgebrochen, damit sie sich in Vollzeit um ihre Mutter kümmern kann. Sie nahmen eine Hypothek auf ihr Haus in Großbritannien auf und kamen hierher, in die von Hitze ausgedörrte Landschaft Andalusiens. Die Klinik des Dr. Gomez´ erscheint für das britische Mutter-Tochter-Gespann als letzte Chance, um die mysteriöse Krankheit zu heilen: Rose ist teilweise gelähmt. Die Methoden des Doktors kommen den beiden zunächst seltsam vor. Mehr als der medizinische Aspekt interessiert Gomez´ aber die Psychologie seiner Patientin – und auch die ihrer Tochter Sofia. Das sind die großen Fragen in Deborah Levys neuem, einfühlsamen Buch „Heiße Milch“: Ist Go-´ mez ein Kurpfuscher? Bildet sich Rose ihre Lähmung nur ein? Und kann sich Sofia von ihrer Mutter abnabeln?
„Sie ist meine Gläubigerin“, sagt Sofia über ihre Mutter, „und ich bezahle sie mit meinen Beinen. Die andauernd für sie unterwegs sind.“Die Leser dürfen Sofias emotionalen Weg zu einem eigenen Leben begleiten, Levy beschreibt diesen Prozess poetisch wie gemütsvoll. Unter der Sonne Andalusiens merkt Sofia, dass ihre Mutter winzige Mücken auf ihren Beinen spüren kann, dass Rose in der Lage ist, Auto zu fahren. Sie merkt, dass sie sich auf andere Menschen emotional einlassen kann, zum Beispiel auf Juan, oder auf Ingrid, die Deutsche, in die sich Sofia verlieben könnte. „Ich muss cooler Deborah Levy „Heiße Milch“ Übersetzt von Barbara Schaden Kiepenheuer & Witsch 288 Seiten 20,60 Euro werden“, sagt Sofia zu sich selbst. Und: „Ich will ein größeres Leben.“
Roses vielleicht psychosomatische Erkrankung bindet ihre Tochter fest an sie, vielleicht mit Absicht? Eine große Rolle spielt natürlich die Vergangenheit der beiden, oder wie Sofia es ausdrückt: „Vielleicht sitzen Rose die Erinnerungen in den Knochen.“ „Stiehl doch mal einen Fisch!“In diesen Erinnerungen wühlen Gomez´ und seine Krankenpflegerin-Tochter Julieta, während der Arzt Sofia losschickt, ihr eigenes Leben zu erkunden. Sie solle doch einen Fisch stehlen, meint er. Kühner werden. Die junge Frau trippelt in die Welt hinaus, lässt Emotionen aufkommen, die sie bislang an den Rand ihrer Seele verdrängt hatte. Auch Ingrid fordert sie heraus.
Sogar ihren Vater will sie nun suchen, einen Griechen, der die Familie Richtung Athen verlassen hat, um eine deutlich jüngere Frau zu heiraten. Der Wohlstand des Vaters bringt der Tochter gar nichts, stattdessen ist sie finan- ziell von ihrer Mutter abhängig, was die Beziehung der beiden freilich nicht erleichtert. Aus Athen zurückkommend sagt Sofia zu Dr. Gomez:´ „Mein Vater hat mich abgeschrieben.“Nett ist die Mutter zu ihrer Tochter auch nicht: Sie nennt sie dick und faul, kommandiert sie herum, hält ihr vor, dass sie immer das falsche Trinkwasser bringe. „Ich bin eine Sklavin“, sagt Sofia.
Die gefeierte Buch- und Theaterautorin Levy liefert mit „Heiße Milch“ein feinsinniges Stück, in dem sie nicht nur eine ungesunde Mutter-TochterBeziehung entwirrt, sondern auch stoisch skurril anmutende Situationen beschreibt. Levy stand mit diesem Buch 2016 auf der Shortlist des britischen Man Booker Prize, schon zum zweiten Mal nach „Swimming Home“im Jahr 2012. Es ist witzig, dass gerade das „Heimschwimmen“auch für Sofia gilt, als Befreiung von den Umklammerungen ihres Lebens. Das andalusische Meer bietet sich ihr an, und so kann sie selbst über die lästigen Quallen hinwegsehen. Levy ist eine Empfehlung.