Erst das Verbrechen, dann die Strafe
Ferdinand von Schirach schildert in seinem dritten Geschichtenband wieder schaurige Kriminalfälle. Bei Ferdinand von Schirach weiß man, was man bekommt. Auch in seinem nach „Verbrechen“und „Schuld“dritten Geschichtenband namens „Strafe“. Wobei er die Bücher auch „Verbrechen I, II, III“hätte nennen können. Denn es geht stets um dasselbe: um Täter und Opfer, wahre und vermeintliche. Um Verbrechen, für die jemand bestraft wird. Manchmal zu Recht, manchmal nicht. Nur eine kleine Überraschung hält er diesmal bereit: Im letzten Text, „Der Freund“, verrät er uns, wieso er vom Strafverteidiger zum Schriftsteller wurde.
Davor geht es aber in erster Linie um zwischenmenschliche Abgründe. Um Menschen, die lange Demütigung oder Gewalt erdulden, bis sie eines Tages ausbrechen und zurückschlagen. In sachlichem Ton, dieser schon zur Marke gewordenen Schirach-Sprache, erzählt er unter anderem von einem Mann, der seine Sexpuppe Lydia so liebt, dass er ihre Schändung durch den Nachbarn mit Gewalt sühnt. Oder von einem anderen, der seine Frau mit seinem seltsamen Fetisch verrückt macht und eines Tages im Taucheranzug stranguliert an der Badezimmerheizung hängt.
Wir werden beim Lesen oft getäuscht. Weil wir zu wissen glauben, wer Schuld hat, wer die Strafe verdient. Oft aber begreifen wir auf der letzten Seite, manchmal erst im letzten Satz, dass doch alles anders ist. Es sind triste Texte, die ohne die berühmte „Moral von der Geschichte“auskommen. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft von Schirachs: Urteile nicht über die Verzweiflung anderer. Wer weiß, was du tun würdest. Ferdinand von Schirach: „Strafe“, Luchterhand, 192 S., 18,50 Euro