Elternstreik im Kinderzimmer
AutoritäreA Erziehung führt nicht zum Ziel – antiautoritäre aber auch nicht: Der brasilianisch-israelische PsychologeP Haim Omer lehrt Eltern und Pädagogen daher neue Autorität.
Manchmal hilft vielleicht ein Sitzstreik. Nehmen wir an, ein Bub hat seine Schwester geschlagen, womöglich nicht zum ersten Mal. Dann setzen sich ein paar Stunden später Mutter und Vater ins Kinderzimmer. Kommunizieren, warum sie das nicht mehr akzeptieren. Bitten den Sohn um einen Lösungsvorschlag. Und bleiben bis dahin einfach ruhig in der Tür sitzen. Ohne zu plappern, ohne sich auf Diskussionen einzulassen, eine Stunde lang.
Was auf den ersten Blick etwas seltsam anmutet, rät Haim Omer (68) Eltern regelmäßig: Das Sit-in im Kinderzimmer, in Wirklichkeit natürlich noch etwas komplexer als soeben beschrieben, ist eine der Maßnahmen, die Eltern sicherer und stärker machen soll. Es ist ein konkretes Puzzleteil des Modells der „Neuen Autorität“, das der brasilianisch-israelische Psychologe, der vergangene Woche auf Einladung von Stadtschulrat, Lehrerbildnern, Polizei und verschiedenen anderen Institutionen in Wien war, entwickelt hat.
Mit g’sunden Watschen und derartigen Erziehungsmethoden hat diese neue Autorität freilich nichts zu tun. Das rigorose, streng hierarchische, herkömmliche Modell von Autorität sei nicht mehr akzeptabel, erklärt der Psychologieprofessor in ausgezeichnetem Deutsch, einer der sieben Sprachen, in denen er vorträgt. (Fast taub sei er in allen sieben Sprachen, scherzt er, erst die Technik macht ein Gespräch möglich.) Antiautoritäre Erziehung habe freilich auch nicht funktioniert.
„Die Idee einer vollkommen freien Erziehung ohne Grenzen: Das war ein großer Traum, vielleicht der größte in der Geschichte der Pädagogik“, meint er. Mit ernüchternden Resultaten: Antiautoritär erzogene Kinder würden bewiesenermaßen eher zu Risikofakto- ren neigen, sie hätten niedrige Frustrationstoleranz und schlechteren Selbstwert. „Das war für mich der Reiz, ein konstruktives Modell von Autorität zu skizzieren. Eines, das für unsere Gesellschaft akzeptabel ist und zu unseren Werten passt.“
Und wie sieht es aus? Statt auf Kontrolle und Gehorsam setzt seine neue Autorität auf Selbstkontrolle („Eine gewissenhafte Rollenausführung führt zu Respekt, bildet Autorität.“). Anstelle einer hierarchischen Autorität, die gegen Kritik von Außen immun und niemandem Rechenschaft schuldig ist, tritt eine, die durch die Unterstützung des Umfelds legitimiert wird (von dem Eltern sich auch Hilfe holen sollen – etwa, indem am Tag nach einem Vorfall der Opa das Kind anruft). Und, der wichtigste Pfeiler: Anstatt auf Distanz basiert Omers neue Autorität auf Präsenz: „Die Eltern vermitteln dem Kind die Botschaft: ’Du kannst dich nicht von mir scheiden lassen, du kannst mich nicht feuern. Ich bin da und ich bleibe da.’“Eine konkrete Ausformung davon – wenn eine Grenze überschritten wurde – ist eben das Sit-in. „Das ist eine Aufbietung von zäher Präsenz, Entschlossenheit und Selbstkontrolle.“Dass der Sitzstreik an Gandhi erinnert, ist dabei kein Zufall: „Wenn ein Kind die Grenzen nicht annimmt: Wie kann man Präsenz aufzeigen, ohne in Eskalation zu geraten? Das ist die Millionen-Dollar-Frage“, sagt er und lacht. Die Antwort fand er im gewaltlosen Widerstand, den er für den Kontext der Familie und die Schule adaptiert hat. Fünf Kinder, 13 Enkel. Mit seinem Modell, das Eltern eine klare Richtung und praktische Antworten geben soll, hat der Sohn von Holocaustüberlebenden vor rund zwanzig Jahren angefangen, nachdem er lang als Therapeut und als Supervisor gearbeitet hat. In die Erziehung seiner eigenen fünf Kinder ist es allerdings kaum mehr eingeflossen; seine jüngste Tochter ist inzwischen 27 Jahre alt. „Ich wusste es auch nicht besser als andere Eltern – aber vielleicht haben mir einige der Kopfschmerzen, die die Kinder mir bereitet haben, geholfen“, sagt er. „Meine Kinder haben mich alles gelehrt, was ich über elterliche Hilflosigkeit weiß.“Mit seinen Ratschlägen, die teils für die 13 Enkelkinder genutzt werden, werde die Hilflosigkeit von Eltern nun kleiner. Problematisches Verhalten der Kinder nehme ab. Und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern werde besser. Ähnliches zeige sich an Schulen: Gewalt wird weniger, Burn-out bei Lehrern seltener. Wie ein Anker. Es geht bei dem Ganzen nicht darum, wer mehr Macht hat, wer gewinnt oder kontrolliert. „Wir wollen, dass die Eltern wie ein Fels in der Brandung sind, wie ein Anker.“Sie sind immer für die Kinder da, sie lassen die Kinder aufs Meer hinausfahren – aber sie geben auch die Regeln und Strukturen vor und halten das Schiff bei Gefahr im Verzug auf Kurs. Wobei nicht jedes Thema gleich einen Sitzstreik erfordert. „Eltern sollen ihre roten Linien definieren. Diese roten Linien müssen eine sehr gute Berechtigung haben“, sagt Omer. „Wenn der Sohn etwa seine Hausübungen nicht macht, wird man keinen Sit-in machen! Dann wird man mit ihm darüber sprechen.“
»Die antiautoritäre Erziehung war der größte Traum in der Geschichte der Pädagogik.« »Es gibt Kinder, die sehr gern diskutieren, um die Sache in der Schwebe zu halten.«
Je nach Thema ist aber auch beim Diskutieren manchmal weniger mehr, wie Omer meint, der nach wie vor auch als Therapeut arbeitet. „Es gibt Kinder, die gern diskutieren, um die Sache in der Schwebe zu halten – weil Eltern dann nicht handeln. Daher helfen wir den Eltern, mit Diskussionen aufzuhören.“Ein Beispiel ist die Tochter, die sich am Abend davon macht – ohne zu sagen, wohin. Die Eltern kommunizieren, dass sie das nicht akzeptieren und darüber nicht diskutieren. Etwa so: „Ich will nicht auf dich verzichten. Du bist mir zu teuer. Und die Argumente enden hier.“