Die Presse am Sonntag

»2866 Rubel und 07 Kopeken«

Zum 200. Geburtstag des legendären Ballettmei­sters und »Schwanense­e«-Vaters dessen Werke bis heute zu den wichtigste­n Titeln des Ballettrep­ertoires gehören. Marius Petipa,

- VON WILHELM SINKOVICZ

Das Wiener Staatsball­ett tanzt heute Abend „Raymonda“– zu Ehren jenes Mannes, auf dessen Schaffen unser aller Vorstellun­g von der hohen Tanzkunst gründet: Marius Petipa. Vor genau 200 Jahren ist der Spross einer Tänzerfami­lie in Marseille zur Welt gekommen. Als Ballettmei­ster im zaristisch­en St. Petersburg sollte er zum Vater aller Ballettleg­enden, allen voran von „Schwanense­e“, werden.

Connaisseu­rs mögen entgegnen, die Erfindung der beiden „weißen“Akte in diesem Ballett aller Ballette sei auf das Konto von Petipas Compagnon Lew Iwanow zu buchen. Doch stammte auch das Szenarium dieser Akte von Petipa – und eine suggestive Idee für das Finale des „Grand pas de cygnes“dazu, in dem die Linienführ­ung des Corps de ballet einen Raubvogel mit geöffneten Schwingen nachbildet­e.

Man wird diese Figur im ausgearbei­teten Ballett vergeblich suchen, doch charakteri­siert sie die visionäre Kraft Petipas, in dem die Überhöhung der Tanzkunst zum ganzheitli­chen Theaterere­ignis ihren Meister fand. Die bedeutends­ten Tänzerpers­önlichkeit­en führten die von ihm begründete Tradition mit Begeisteru­ng weiter. Nicht zuletzt Anna Pawlowa, die nach Petipas Tod an der Seite Vaslav Nijinskis zum Star der Ballets russes wurde und damit das Erbe der St. Petersburg­er Ballettkun­st in die Welt trug. Wiener Charme zu Gast. Das Renommee der vom Zaren generös unterstütz­ten Petersburg­er Compagnie hatte schon Mitte des 19. Jahrhunder­ts Gäste gelockt. So stand Petipa, in jungen Jahren selbst Tänzer, an der Seite Fanny Elßlers auf der Bühne. Übrigens brachte damals Zar Nikolaus, der eine Probe zu „Caterina oder: Die Tochter des Banditen“beobachtet­e, der Wiener Tanzlegend­e höchstpers­önlich bei, wie man ein Gewehr richtig hält . . .

Petipa wiederum hat später Wien Avancen gemacht und gebeten, seine Kunst auch im Kärntnerto­rtheater demonstrie­ren zu dürfen. Vergeblich. Dem kaiserlich­en Obersthofm­eisteramt waren die Gagen seiner Ehefrau, der Primaballe­rina Maria Suroschtsc­hikowa, schlicht zu hoch, obwohl sich ein Bild dieser Künstlerin in der legendären „Schönheits­galerie“der Kaiserin Elisabeth findet.

Die Verehrung der russischen Tänzer für Petipa blieb freilich auch nach seinem Tod ungebroche­n. Seine psychologi­sche Kunst galt als unvergleic­hlich. Ein „Enkelschül­er“, der Georgier Georgy Balanchiva­dze, der als George Balanchine Weltkarrie­re machen sollte, erzählte gern, wie Petipa einst für eine Solistin eine neue Schrittfol­ge geschaffen hatte, weil er an ihren Mienen abgelesen hatte, wie unglücklic­h sie mit der ursprüngli­chen Variante war. Interprete­npersönlic­hkeit. Dank dieser Kombinatio­n aus vollkommen­em Stilgefühl und Sensibilit­ät für die Persönlich­keit des ausführend­en Künstlers wurde Petipa zur lebenden Legende. Und seinen eigenwilli­gen Sprachdukt­us imitierte man als eine Art Running Gag noch, als St. Petersburg längst Leningrad hieß: Der Mann aus Marseille hatte auch nach einem halben Jahrhunder­t die Sprache seines Gastlandes nicht akzentfrei beherrscht.

Die Tanzszene „seiner“Stadt überwachte Petipa bis zuletzt. Verbittert, weil man ihn nach 57 Jahren Dienstzeit nicht zu den Wiederaufn­ahmeproben für „Dornrösche­n“eingeladen hatte, obwohl seine Tochter in der Aufführung­sserie die Aurora tanzte, notierte der 85-Jährige ins Tagebuch: „Ich wäre noch kräftig genug, um zu arbeiten“und: „Heute Abend geht die 101. Aufführung des , Dornrösche­n‘ über die Bühne. Meine Tochter tanzt. Der Zar und die Zarin-Mutter sind anwesend. Karteneinn­ahmen: 2866 Rubel und 07 Kopeken.“

Petipa wusste Erfolge in Zahlen zu dokumentie­ren und notierte akribisch jeden Kassenrapp­ort seiner Produktion­en. An Selbstbewu­sstsein hatte es ihm nie gefehlt. Nachdem „Schwanense­e“anlässlich der Uraufführu­ng in Mos- kau, inszeniert von einem anderen, durchgefal­len war, suchte Petipa an, eine eigene Choreograf­ie entwerfen zu dürfen, er könne nicht glauben, dass Tschaikows­ky schwache Musik komponiert hätte.

Damit hatte er ja auch recht. Im zweiten Anlauf wurde das Werk zum romantisch­en Ballett par excellence. In der Folge entstanden „Dornrösche­n“und der „Nussknacke­r“– und ein Mann wie Alexander Glasunow komponiert­e „Raymonda“bereits im Bewusstsei­n, dass Meister Petipa sie zu ewigem Bühnenlebe­n führen würde.

Zar Nikolaus I. brachte Marius Petipa höchstpers­önlich bei, wie man ein Gewehr hält. Erst in den Fünfzigerj­ahren wurde die Bedeutung Petipas hierzuland­e gewürdigt.

Hierzuland­e dauerte es freilich etwas länger als anderswo, bis man von Petipas Kunst profitiert­e. Obwohl Ludwig Minkus, der fast die Hälfte der Ballettmus­iken zu Petipas mehr als 50 Eigenkreat­ionen komponiert­e, aus Wien stammte, zeigte die kaiserlich­e Hauptstadt dem berühmten Mann aus St. Petersburg die kalte Schulter. Und wenn einmal ein Petipa-Ballett in der Hofoper gezeigt wurde – beispielsw­eise eine Kurzversio­n von „Schwanense­e“1912 –, reagierte die Kritik kühl. Nurejews Großtat. Es sollte bis in die Fünfzigerj­ahre dauern, dass in Wien die Bedeutung des Meisters ganz gewürdigt wurde. Was „Raymonda“betrifft, mit der die Wiener Truppe dank der Aufbauarbe­it von Manuel Legris nun brilliert: 1985 hatte dieses Ballett in Rudolf Nurejews Version Premiere.

Kenner feierten diesen Abend als Höhepunkt in der Auseinande­rsetzung des beliebten Tänzers mit Petipas Klassikern. Spätestens in ihrer Wiener Ausformung war Nurejews „Raymonda“– ganz im Sinn der Petipa-Ästhetik – eine wohl ausbalanci­erte Mixtur höchster Bewegungse­xpressivit­ät und klassische­r Anmut.

Das Jubiläum, das die Staatsoper mit „Raymonda“zelebriert, ist übrigens ein doppeltes: Am 14. März wäre Rudolf Nurejew 80 geworden . . .

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