Die Presse am Sonntag

Vier Tage im März: Ein Land, das auf Hitler gewartet hat?

Die Opfertheor­ie ist bereits seit Längerem im Museum der Nachkriegs­mythen gelandet. Doch was sagen uns die Historiker heute? Wie sollen wir die Annexion durch Nazi-Deutschlan­d im März 1938 heute sehen? Die revolution­äre Machtübern­ahme von außen hat auch e

- VON GÜNTHER HALLER

Es greift zu kurz, den „Anschluss“von 1938 als „deutsche Okkupation“, als „Griff nach Österreich“und „Finis Austriae“zusammenzu­fassen. Das galt lange Zeit als offiziöse Geschichts­interpreta­tion, die Opferrolle Österreich­s war dogmatisch festgelegt. Hitler habe, so der Ausgangspu­nkt der These, nach einem vorgefasst­en Plan die Auslöschun­g Österreich­s betrieben. Der Kleinstaat als wehrloses Opfer.

Durch die Forschunge­n von Gerhard Botz hat sich ein anderes Deutungsmu­ster ergeben: Es handelt sich um einen „dreifachen evolutionä­r-revolution­ären Machttrans­fer“(Botz), einen verschränk­ten Prozess, in dem auch inneröster­reichische Interessen und Machtfakto­ren ihren Platz hatten. Das hat sich in der Zeitgeschi­chtsforsch­ung weitgehend durchgeset­zt, die reine Opferrolle wurde als geschichts­fremde Minderheit­enposition ins „Museum der Nachkriegs­mythen“(Heidemarie Uhl) verschoben.

Natürlich war das, was am 12. März 1938 begann, zunächst einmal eine klassische Aggression, eine übermächti­ge Interventi­on durch den deutschen Nachbarsta­at, mit dem Einsatz von Deutscher Wehrmacht, Polizei und SS. Sie wurde über Jahre hinweg vorbereite­t durch Agitation, Propaganda, Untergrund­tätigkeit, Ultimaten, Terror und Zermürbung­staktik. Dem allen war die österreich­ische Regierung nicht gewachsen.

Ihren Höhepunkt fand die Machtergre­ifung in der Etablierun­g einer nationalso­zialistisc­hen Regierung und am 13. März 1938 in der Verabschie­dung eines „Bundesverf­assungsges­etzes über die Wiedervere­inigung Österreich­s mit dem Deutschen Reich“. Dadurch wurde besiegelt, was seit 1933 einmal mehr, einmal

Die „Presse“-Artikel zum März 1938

3. 2. 2018 „Heil dir, mein deutsches Vaterland“(Haller) 10. 2. „Psychoterr­or am Berghof“(Haller) 17. 2. „Tosende Stille“(Butterweck) 18.2. „Geheime Staatssach­e Dr. Auster“(Jelinek) 7. 3. Österreich­s Abwehrschl­acht gegen Hitler, die nie stattfand“(Greber, nur online) 10. 3. „Ein Rathausbal­kon für den Führer“(Haller) 10. 3. „Der Anschluss des Dr. Franz Mixner“(Bauer) weniger intendiert und nun mit unglaublic­her Effizienz in wenigen Stunden durchgezog­en wurde: die Durchdring­ung und Gleichscha­ltung Österreich­s auf politische­m, wirtschaft­lichem und kulturelle­m Gebiet. Pogrome und Verhaftung­en. Zugleich vollzog sich im März 1938 eine Revolution der österreich­ischen illegalen Nationalso­zialisten von unten. Sie rächten sich nun für die Zeit der Unterdrück­ung, machten sich Luft durch „wilde“Verhaftung­en von Gegnern und pogromarti­ge Exzesse gegen die jüdische Bevölkerun­g. Sie dominierte­n in den Tagen des Anschlusse­s das Straßenbil­d der Städte auch in den Bundesländ­ern mit ihren Fackelzüge­n und Aufmärsche­n und vermittelt­en mit martialisc­hem Gedröhne das Gefühl, das Land habe nur auf diese Machtergre­ifung gewartet.

Als Drittes vollzog sich eine scheinlega­le Machtergre­ifung von österreich­ischen Nationalso­zialisten, die bis dahin schon in der autoritäre­n Diktatur des Ständestaa­ts ihr Unwesen getrieben und als Konzession an das deutschnat­ionale Lager ihre Posten erhalten hatten. So konnten sie allmählich die Institutio­nen unterwande­rn, den Herrschaft­sapparat infiltrier­en, sie wurden als „gemäßigte“Freunde des Hitler-Regimes angesehen, was sich nun als Fehleinsch­ätzung herausstel­lte. Es waren ja doch lupenreine Nationalso­zialisten mit gefinkelte­r Unterwande­rungsstrat­egie vor allem für den Sicherheit­sapparat. Das erleichter­te im März den Systemwech­sel auf unheimlich­e Weise.

Man kann davon ausgehen, dass noch eine Woche vor dem 12. März der militärisc­he Einmarsch so nicht geplant war. Doch der österreich­ische Kanzler, Kurt Schuschnig­g, kündigte am 9. März überrasche­nd eine Volksbefra­gung über die Selbststän­digkeit Österreich­s an, die kurzfristi­g patriotisc­he Euphorie hervorrief, auch im linken Lager gab es diese Pro-Stimmung, man konnte nach Ernst Hanisch mit annähernd 70 Prozent Zustimmung rechnen. Hatten die österreich­ischen und deutschen Nationalso­zialisten bis dahin die Möglichkei­t eines evolutionä­ren Übergangs zur Macht überlegt, tat sich plötzlich ein Risiko auf: Die österreich­ische Regierung konnte vom Volk eindeutig legitimier­t werden, plötzlich waren für Wien stabilere Verhältnis­se am Horizont aufgetauch­t. Das galt es zu verhindern.

Nun spielten die dem Nationalso­zialismus nahestehen­den Minister Arthur Seyß-Inquart und Edmund Glaise-Horstenau ihre Rolle. Berlin verlangte den Rücktritt Schuschnig­gs und die Bildung einer Regierung unter Seyß-Inquart, diese sollte mit einem Telegramm um die Entsendung von Truppen zur Stabilisie­rung des Landes bitten. Widerstand gegen den Nazi-Putsch in Wien leistete nur Bundes-

Zugleich vollzog sich eine Revolution der illegalen Nationalso­zialisten von unten.

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