Am Anfang stand ein Hungerwinter
Vor 200 Jahren wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen geboren. Er gilt als Gründervater des Genossenschaftssystems.
Nur 185 Kilometer und etwas mehr als ein Monat trennen die beiden Sozialrevolutionäre, von denen jeder auf seine Weise deutliche Spuren in der Geschichte hinterlassen hat. Am 5. Mai 1818 wurde in Trier Karl Marx geboren, der mit seinen Theorien maßgeblich das 20. Jahrhundert beeinflusst hat. Nur kurz zuvor, am 30. März 1818, erblickte im etwas nordöstlich von Trier gelegenen Hamm Friedrich Wilhelm Raiffeisen das Licht der Welt. Diese Parallele ist insofern interessant, weil beide zur selben Zeit mit den selben sozialen Problemen konfrontiert waren, allerdings vollkommen unterschiedlich darauf reagierten.
Raiffeisen kam als siebentes von neun Kindern in einer kleinen Gemeinde zur Welt. Sein Vater war zwar Bürgermeister ebendieser Ortschaft, dennoch fehlte der Familie das Geld für höhere Bildung, weshalb Raiffeisen eine militärische Laufbahn einschlug. Aufgrund eines Augenleidens musste er diese jedoch nach acht Jahren beenden und wurde nach verschiedenen Tätigkeiten im staatlichen Dienst 1845 Bürgermeister von Weyerbusch, einer Amtsgemeinde mit 22 Ortschaften.
Wie Marx war auch Raiffeisen zu dieser Zeit mit der großen Armut von weiten Teilen der Bevölkerung konfrontiert. Vor allem der Winter 1846/47 war dabei eine Zäsur. Aufgrund einer klimatischen Abkühlung auf der einen Seite und des Auftretens der aus den USA eingeschleppten Kartoffelfäule kam es in ganz Europa zu Missernten – was etwa in Irland in der Folge zur Großen Hungersnot mit rund einer Million Toten führte. Aber auch in Deutschland sorgte dieser Hungerwinter für große Probleme. Um die Not in seiner Gemeinde zu lindern, beantragte Raiffeisen die Lieferung von Brotgetreide, was auch geschah. Allerdings durfte er dieses nur gegen sofortige Bezahlung herausgeben.
Da viele Ortsbürger nicht genügend finanzielle Mittel hatten und Geldverleiher Wucherzinsen von bis zu 50 Prozent verlangten, gründete Raiffeisen einen „Brotverein“. In diesen Verein konnten jene Bürger, die über Ersparnisse verfügten, einzahlen. Mit dem Geld wurde den Ärmeren im Winter Getreide und im Frühjahr Saatgut zur Verfügung gestellt. Durch die Ernte im folgenden Jahr konnten sie ihre Schulden an den Verein und somit an ihre Geldgeber zurückbezahlen.
Aufgrund des Erfolgs seines Brotvereins entwickelte Raiffeisen die Idee in den darauffolgenden Jahren an anderen Orten, in denen er Bürgermeister wurde, weiter. So entstand 1848 der „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“, bei dem die Beteiligten gemeinsam die Bürgschaft für Kredite übernahmen und das Geld günstig an jene Bauern weitergaben, die es benötigten. 1864 wiederum gründete er in Heddesheim den „Darlehenskassenverein“, der die erste Genossenschaftsbank nach heutigem Verständnis darstellt. Das Buch. Um seine Gedanken besser verbreiten zu können, begann Raiffeisen zu dieser Zeit auch, ein Buch zu schreiben – auch hier eine Parallele zu Marx. Denn etwa zur selben Zeit als dieser den ersten Band seines Hauptwerkes „Das Kapital“herausbrachte, stellte auch Raiffeisen sein Buch „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“fertig.
Durch das Buch wurden Menschen in ganz Deutschland auf genossenschaftliche Kreditvereine aufmerksam, weshalb es in den 1870er- und 1880erJahren zu einer wahren Gründerwelle an Raiffeisen-Kassen in ganz Deutschland kam. Ein Umstand, der sich auch nach Österreich herumsprach, weshalb im Jahr 1886 eine kleine Delegation aus dem niederösterreichischen Mühldorf bei Spitz sich auf den Weg nach Deutschland machte und Raiffeisen besuchte. Die Niederösterreicher waren von Raiffeisens Konzept so begeis-
eigenständige Genossenschaften
bilden heute den Raiffeisen-Sektor in Österreich.
Millionen Österreicher
sind Mitglied in einer dieser Genossenschaften.
Im »Brotverein« von Weyerbusch setzte Raiffeisen seine Idee erstmals um.