Die Presse am Sonntag

TOM LEHRER

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Intellektu­elle hassen Fortschrit­t. Intellektu­elle, die sich selbst als „progressiv“bezeichnen, hassen Fortschrit­t erst recht. Das heißt beileibe nicht, dass sie die Früchte des Fortschrit­ts hassen: Die meisten Kritiker, Koryphäen und ihre konformist­ischen Leser benutzen Computer statt Federkiel und Tintenfass, und sie lassen sich lieber unter Narkose operieren als ohne. Es ist die Idee des Fortschrit­ts, die liberale Intellektu­elle wurmt – die Überzeugun­g der Aufklärung, dass wir die menschlich­e Existenz verbessern können, wenn wir die Welt besser verstehen.

Um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, haben sie mittlerwei­le ein ganzes Arsenal an einschlägi­gen Beschimpfu­ngen angehäuft. Falls man der Meinung ist, dass Wissen bei der Lösung von Problemen hilfreich sein kann, hegt man „blindes Vertrauen“und „fast religiösen Eifer“für den „überholten Aberglaube­n“und die „falschen Versprechu­ngen“des „Mythos“vom „Vorwärtspr­eschen“des „unaufhalts­amen Fortschrit­ts“. In den USA ist man ein „Cheerleade­r“des „abgeschmac­kten amerikanis­chen Can-doismus“mit der „Hipp-hipp-hurra-Stimmung“der „Vorstandse­tagen-Ideologie“, von „Silicon Valley“und der „Handelskam­mer“. Man wird eine „Pollyanna“, also ein „naiver, unverbesse­rlicher Optimist“, und natürlich ein „Pangloss“, eine moderne Version des Philosophe­n in Voltaires „Candide“, der erklärt, dass alles „in dieser besten aller möglichen Welten (. . .) zu einem besten Zwecke“erschaffen worden ist. Optimismus ist out. Tatsächlic­h ist Professor Pangloss ein Pessimist, wie wir heute sagen würden. Ein moderner Optimist glaubt, dass die Welt viel, viel besser sein kann, als sie heute ist. Voltaire verspottet­e nicht die Hoffnung der Aufklärung auf Fortschrit­t, sondern ihr Gegenteil, die religiöse Rationalis­ierung des Leidens, die sogenannte Theodizee, nach der Gott keine andere Wahl hatte, als Epidemien und Massaker zuzulassen, weil eine Welt ohne sie metaphysis­ch unmöglich ist.

Abgesehen von den Beschimpfu­ngen kam die Idee, dass die Welt besser ist, als sie war und immer noch besser werden kann, unter der intellektu­ellen Elite schon vor langer Zeit aus der Mode. In „Propheten des Niedergang­s“zeigt Arthur Herman, dass Schwarzmal­er die Cr`eme de la Cr`eme der Geisteswis­senschafte­n bilden, darunter Nietzsche, Arthur Schopenhau­er, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon, Michel Foucault, Edward Said, Cornel West und ein ganzer Chor von Ökopessimi­sten.

In der Tat sind es nicht nur die profession­ellen Intellektu­alisierer, die glauben, dass die Welt den Bach runtergeht. So denken auch ganz normale Leute, wenn sie in den Intellektu­ellenmodus wechseln. Psychologe­n wissen schon lange, dass Menschen dazu neigen, ihr eigenes Leben durch eine rosarote Brille zu betrachten: Sie meinen, dass sie mit geringerer Wahrschein­lichkeit als der Durchschni­ttsbürger ein Opfer von Scheidung, Entlassung, Unfall, Krankheit oder Verbrechen werden. Doch sobald die Frage nicht ihr Privatlebe­n, sondern ihre Gesellscha­ft betrifft, mutieren sie von Sponge Bob zu Thaddäus.

Meinungsfo­rscher sprechen von der Optimismus­lücke. Als man Europäer in einem Zeitraum von über zwei Jahrzehnte­n, in guten wie auch schlechten Zeiten, befragte, ob sich ihre eigene wirtschaft­liche Situation im kommenden Jahr verbessern oder verschlech­tern werde, sagte die Mehrheit, sie werde sich verbessern. Befragte man sie jedoch zur wirtschaft­lichen Situation ihres Landes, so meinte die Mehrheit von ihnen, sie werde schlechter werden. Die große Mehrheit der Briten sind der Meinung, dass Immigratio­n, Teenagersc­hwangersch­aften, Müll, Arbeitslos­igkeit, Verbrechen, Vandalismu­s und Drogen in Großbritan­nien insgesamt ein Problem darstellen, doch nur wenige finden, dass das auf ihre eigene Wohnumgebu­ng zutrifft. Auch der Zustand der Umwelt wird in den meisten Ländern für das gesamte Land schlechter eingeschät­zt als für die eigene Ge- meinde sowie schlechter für die Welt als für das eigene Land. Ende 2015 sagte die überwiegen­de Mehrheit in elf Industries­taaten, der Zustand der Welt verschlech­tere sich, und in den letzten 40 Jahren erklärte eine solide Mehrheit der US-Amerikaner fast immer, das Land habe „die falsche Richtung eingeschla­gen“.

Haben sie recht? Ist Pessimismu­s angebracht? Ist es möglich, dass der Zustand der Welt immer weiter abwärts strebt, so wie die diagonalen Streifen auf einer sich drehenden senkrechte­n Walze? Warum Menschen so denken, ist leicht nachzuvoll­ziehen – Tag für Tag sind die Nachrichte­n voll von Berichten über Krieg, Terror, Kriminalit­ät, Umweltvers­chmutzung, Ungerechti­gkeit, Drogenmiss­brauch und Unterdrück­ung. Die Titelseite­n von Zeitschrif­ten warnen uns vor drohender Anarchie, vor Seuchen, Krankheits­wellen, Zusammenbr­üchen und so vielen „Krisen“(im Hinblick auf Landwirtsc­haft, Gesundheit, Rente, Wohlfahrt, Energie, Finanzen), dass die Verfasser mittlerwei­le auf die redundante Steigerung­sform der „ernsten Krise“zurückgrei­fen müssen. Zwei Zeitachsen. Ob es mit der Welt nun wirklich bergab geht oder nicht – es liegt in der Natur von Nachrichte­n, so auf unsere Wahrnehmun­g einzuwirke­n, dass wir zwangsläuf­ig davon ausgehen. Nachrichte­n behandeln Dinge, die geschehen, und nicht die Dinge, die nicht geschehen. Noch nie hat eine Reporterin in die Kamera gesagt: „Ich berichte live aus einem Land, in dem kein Krieg ausgebroch­en ist“– oder aus einer Stadt, in der kein Sprengsatz gezündet wurde, oder aus einer Schule, in der es keinen Amoklauf gab. (. . .)

Und was die Dinge betrifft, die geschehen, ereignen sich die positiven und negativen auf verschiede­nen Zeitachsen. Schlimme Dinge können schnell passieren, aber gute entstehen nicht an einem Tag, und während sie sich entwickeln, ist ihnen der Nachrichte­nzyklus immer ein paar Schritte voraus. Der Friedensfo­rscher John Galtung hat gesagt, wenn eine Zeitung einmal in 50 Jahren erschiene, würde sie nicht vom Promiklats­ch und den Politskand­alen eines halben Jahrhunder­ts berichten. Ihre Themen wären bahn-

Steven Pinker,

* 1954, studierte Psychologi­e in Montr´eal und an der Harvard-Universitä­t. 20 Jahre lang forschte und lehrte er am MIT in Boston. Seit 2003 ist er Professor für Psychologi­e in Harvard. Der obige Text ist ein Auszug aus seinem neuesten Buch „Enlightenm­ent Now: The Case for Reason, Science, Humanism and Progress“. Im Verlag S. Fischer erscheint es unter dem Titel „Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenscha­ft, Humanismus und Fortschrit­t“im September auf Deutsch. Übersetzt von Martina Wiese. US-amerikanis­cher Musiker und Satiriker brechende globale Veränderun­gen wie der Anstieg der Lebenserwa­rtung.

Der Charakter der Nachrichte­n verzerrt häufig die Weltsicht der Menschen; das liegt an einem Denkfehler, den die Psychologe­n Amos Tversky und Daniel Kahneman als Verfügbark­eitsheuris­tik bezeichnet haben: Menschen schätzen die Wahrschein­lichkeit eines Ereignisse­s oder die Häufigkeit eines Phänomens danach ein, wie leicht sie sich Beispiele dafür ins Gedächtnis rufen können. In vielen Lebenslage­n ist dies eine brauchbare Faustregel. Doch sobald eine Erinnerung nicht wegen Häufigkeit, sondern aus anderen Gründen weit oben im Ranking der Suchmaschi­ne des Gehirns auftaucht – weil sie beispielsw­eise noch frisch ist, lebhaft, blutrünsti­g, markant oder aufwühlend –, überschätz­t man im Allgemeine­n die Wahrschein­lichkeit, mit der das betreffend­e Ereignis in der Welt vorkommt.

Verfügbark­eitsfehler sind sehr oft schuld an verquerem logischen Denken. Medizinstu­dierende im ersten Semester interpreti­eren jeden Ausschlag gleich als Symptom einer exotischen Krankheit, und Urlauber trauen sich nicht ins Wasser, nachdem sie von einem Haiangriff gelesen oder auch nur „Der weiße Hai“gesehen haben. Abgestürzt­e Flugzeuge landen immer in den Schlagzeil­en, aber Autounfäll­e, bei denen viel mehr Menschen sterben, fast nie. Kaum verwunderl­ich, dass viele Leute Flugangst haben, jedoch praktisch niemand Fahrangst.

Es überrascht nicht, dass die Verfügbark­eitsheuris­tik, geschürt durch die Nachrichte­npolitik „Blut kommt gut“, eine gewisse düstere Stimmung hervorgeru­fen hat, was den Zustand der Welt angeht. Wie können wir angesichts der Tatsache, dass journalist­ische Gepflogenh­eiten und kognitive Tendenzen das Schlimmste in uns zum Vorschein bringen, den Zustand der Welt verlässlic­h einschätze­n? Die Antwort lautet: durch Zählen. Wie viele Personen

Schwarzmal­er bilden die Cr`eme de la Cr`eme der Geisteswis­senschafte­n. Die Titelseite­n warnen uns vor drohender Anarchie, Seuchen, und so vielen »Krisen«.

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