Die vielen Trümpfe des Pokerspielers Kim
Die Regierung Südkoreas setzt hohe Erwartungen ins Treffen mit Nordkoreas Herrscher Kim Jong-un am Freitag. Und da verkündete der gestern auch noch das Ende der Atom- und Raketentests: Man wolle ab jetzt die Wirtschaft fördern.
Überall die weißen Tupfer. Wo zwischen den Wolkenkratzerschluchten der Millionenmetropole Seoul Bäume wachsen, in den Parks, auf den Hügeln und gebirgigen Anhöhen rund um die Stadt – überall die weißen Tupfer. Die Kirschbäume blühen und die gut zweiwöchige Blütezeit zeigt, dass in der ersten Aprilhälfte der Frühling endlich Einzug gehalten hat. Entsprechend aufgeweckt wirkt die Stimmung der Leute.
Auf der Fahrt in die Demilitarisierte Zone (DMZ) gut 40 Kilometer nördlich von Seoul fallen die Kirschblüten auf die Autobahn. Auch in diesem mit Soldaten, Bunkern und verstecktem Kriegsgerät vollgestopften Landstrich sorgt das Frühlingserwachen für eine gelöste Atomsphäre. Autobusse fahren die Touristen, die einen Blick auf das isolierteste Land der Welt werfen wollen, zu den Sehenswürdigkeiten.
Zehn Minuten „Dora“Aussichtsplattform mit einem nordkoreanischen Musterdorf, einem gigantischen Fahnenmast und der Stadt Kaesong im Visier. Zehn Minuten Bahnhof Dorosan, von dem aus in Zukunft einmal aus Seoul kommende Züge bis Lissabon rollen sollen. 40 Minuten für den 1978 entdeckten dritten nordkoreanischen Invasionstunnel. Das heißt in gebücktem Gang mit Helm in einem engen, hunderte Meter langen Gang entlang, bis man an eine Mauer stößt, die die Invasoren aus dem Norden aufhalten soll. Und gebückt wieder zurück. Hurra, wir haben ein paar Minuten unmittelbar unterhalb der innerkoreanischen Grenze verbracht! Dann noch zehn Minuten Halt beim Souvenirshop, Ende der Tour. Nervenkitzel war’s keiner. Tag X für Korea und die Welt? Gewöhnlich ist in der DMZ-Touristentour ja auch noch Panmunjom am Programm – jener berühmte Flecken an der Demarkationslinie, wo beide Koreas auf Tuchfühlung miteinander sind. Aber da kommen seit Wochen keine Touristen mehr hin. Panmunjom wurde vom Tourprogramm gestrichen, weil hier am 27. April ein Ereignis ab- laufen soll, dem nicht nur die beiden Koreas, sondern ganz Nordostasien, ja die Welt entgegenfiebern: das Gipfeltreffen zwischen Südkoreas Präsident Moon Jae-in und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un.
Frühlingserwachen in Korea: „Wir stehen an der Startlinie einer langen Reise zu Frieden und Wohlstand auf der koreanischen Halbinsel“, schwärmte Moon zuletzt. „Wir machen uns auf die Reise zur völligen Denuklearisierung der Halbinsel, zu nachhaltigem Frieden und einer anhaltenden Entwicklung der innerkoreanischen Beziehungen.“Die ganze südkoreanische Regierung hat sich anstecken lassen vom Optimismus ihres Staatschefs, in den Ministerien und regierungsnahen Instituten wird der 27. April gespannt und hoffnungsfroh erwartet. Und dem nicht genug: Am Freitag wurde erstmals eine direkte Telefonverbindung zwischen den Regierungen beider Länder in Betrieb genommen. Überraschung aus dem Norden. Dann platzte am Samstag eine Nachricht aus Nordkorea herein: Kim Jong-un und das Zentralkomitee verkündeten die Aussetzung der Atom- und Raketentests. Man habe die Atomstreitmacht erfolgreich aufgebaut, technisch alles im Griff, und wolle jetzt den wirtschaftlichen Aufbau forcieren. Sogar das „nördliche Atomtestgelände“werde geschleift, um „transparent die Aussetzung der Tests zu garantieren“. Das sei auch Folge der „internationalen Wünsche“bezüglich des Atomprogramms. Man wolle nun „eine starke sozialistische Wirtschaft bauen und den Lebensstandard bedeutend heben“, hieß es, und „engen Kontakt und Dialog mit den Nachbarländern und der internationalen Gemeinschaft“suchen.
Damit scheint der Norden vor dem Gipfel eine ungeheure Vorleistung erbracht zu haben. Aber ist der Optimismus berechtigt? Zwei Mal schon, 2000 und 2007 haben südkoreanische Regierungen ihre Hoffungen auf ein friedliches Auskommen mit dem Norden in Gipfel mit dem Machthaber in Pjöngjang gesetzt. Einer der Präsidenten des Südens, Kim Dae-jung, bekam für seine Bemühungen den Friedensnobelpreis. Es hat nichts genützt: Keiner der Gipfel brachte das erhoffte Ergebnis, Nordkorea rüstete weiter atomar auf. Warum sollte es jetzt anders sein?
„Auf das Beste hoffen, aber auf das Allerärgste vorbereitet sein“, lautet der Rat der Realisten, was den möglichen Gipfelreigen anbetrifft, der dem Treffen am 27. April folgen könnte: Ende Mai/ Anfang Juni das entscheidende Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Kim Jong-un, danach womöglich ein Dreiergipfel Trump-Moon-Kim, dann vielleicht ein Nordostasiengipfel mit Trump, Moon, Kim plus Chinas Xi Jinping, Russlands Wladimir Putin und Japans Shinzo Abe? Damit das Ende eines seit 68 Jahre dauernden Krieges (der Koreakrieg wurde nur mit einem Waffenstillstand, nicht per Friedensvertrag beendet) mit Garantien durch alle wichtigen Mitspieler der Region?
„Es klingt so schön, aber wir haben den Film schon ein paar Mal gesehen“, sagt Chaibong Hahn, Direktor des renommierten Asan-Instituts in Seoul, „und er hatte noch nie ein glückliches Ende.“Natürlich will Südkorea dem Druck durch das jetzt atomar bewaffnete Nordkorea entkommen, aber es braucht immer zwei zum Tangotanzen. Die Hauptfragen lauten dabei: Was will Kim? Warum ist er, nachdem er seit seiner Machtübernahme 2011 Südkorea und die USA immer wieder mit hinterhältigen Attacken, Atom- und Raketentests militärisch provoziert hat, plötzlich zum Dialog bereit? War er durch den Druck Trumps (wie dieser sich selbst lobt), die internationalen Sanktionen, die Friedensinitiativen von Präsident Moon (wie die Südkoreaner meinen), das Zureden Chinas zum Einlenken bereit? Oder will er gar wirklich Leben und Alltag seiner 24 Millionen darbenden Bürger verbessern?
Kim hat mit seinen Kernwaffen und Raketen sehr gute Karten. Er kann sie einsetzen, um Zeit zu gewinnen und sein Arsenal während der Verhandlungen weiter ausbauen. Er kann sie benützen, um wichtige Zugeständnisse zu erreichen (Aufhebungen aller Sanktionen, finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung, Abzug der USTruppen aus Südkorea, Garantien für das Überleben seines Regimes und, und, und). „Aber“, fragt Direktor Chaibong Hahn, „will er tatsächlich eine US-Botschaft in Pjöngjang haben? Will er, dass die südkoreanischen Riesen Samsung und LG in Nordkorea investieren? Will er, dass seine Untertanen, die so gut wie nichts über die Welt außerhalb wissen, auf einmal Vergleiche mit dem Leben anderswo anstellen können?“Hahn glaubt nicht: „Was Kim will, ist der Status quo, ist der Erhalt seines Regimes, aber möglichst mit mehr Geld. Kim will aber keine Veränderung des politischen Systems.“
»Auf das Beste hoffen, aber auf das Allerärgste vorbereitet sein«, raten die Realisten. Was Kim will, ist der Erhalt seines Regimes – aber möglichst mit mehr Geld.
»Kim ist nicht verrückt.« Im Außenamt in Seoul ist man zuversichtlicher. „Kim Jong-un ist nicht verrückt“, heißt es, „er ist sogar sehr klug. Er weiß genau, dass Kernwaffen das Überleben seines Regimes garantieren, er weiß aber auch, dass von diesen Waffen die größte Bedrohung für sein Land ausgeht. Und er weiß, dass vom wirtschaftlichen Wohlergehen seiner Landsleute letztlich das Überleben seines Regimes abhängt.“
So viele Erwartungen, so viele Hoffnungen, so viele Spekulationen. Eigentlich weiß man in Südkorea, dass man wenig weiß über den unberechenbaren Nachbarn. Neben den Atomwaffen ist Unberechenbarkeit ein weiterer Trumpf Kims.
Die Kirschblüte in Korea dauert nur ein paar Tage. Dann fallen die Blüten wie Schnee zu Boden. . .