(K)ein ganz gewöhnliches Haus
Vor zehn Jahren wurde bekannt, was als »Fall Fritzl« weltweit für Schlagzeilen sorgte. Heute erinnert man sich in Amstetten nur ungern an die Ereignisse von damals.
Bis vor zehn Jahren war Amstetten vor allem wegen seiner Autobahnabfahrten bekannt: Amstetten West und Amstetten Ost. 2008 änderte sich das. Weil der gebürtige Amstettner Josef Hickersberger als Teamchef Österreichs Fußballnationalmannschaft bei der Heim-EM betreuen sollte. Und weil am 26. April das bekannt wurde, was als „Fall Fritzl“weltweit für Schlagzeilen sorgte.
Amstettner, die sich als solche zu erkennen gaben, wurden danach nicht selten auch im Ausland auf Josef Fritzl und seine Verbrechen angesprochen und ernteten fragend-skeptische Blicke. Heute ist es umgekehrt. Heute schauen die Amstettner fragend-skeptisch, spricht man sie auf den Fall an, und reden ungern darüber.
Für eine kurze Zeit war die Ybbsstraße in Amstetten das mediale Zentrum des Landes. Schaulustige und Journalisten tummelten sich, Übertragungswagen parkten, und Balkone umliegender Häuser wurden zu TV-Studios umfunktioniert. Mit Blick auf das „Horrorhaus“, wie es tituliert wurde. Ein unscheinbarer, damals gräulicher Bau. Mit Zubau und Keller, in dem so viel Schreckliches passiert war. Der Verdacht. Fritzl, heute 83 Jahre alt, hatte im August 1984 seine damals 18 Jahre alte Tochter Elisabeth eingesperrt, missbraucht und sieben Kinder gezeugt. Ein Säugling war nach der Geburt verstorben, drei Kinder hatte er vor der Haustür „abgelegt“, vermeintlich gefunden und mit seiner Frau aufgezogen. Drei weitere hatten bis zum 26. April 2008 mit ihrer Mutter im Keller gelebt. Fritzl hatte das 24 Jahre lang geheim gehalten. Selbst vor seiner Frau. Aufgeflogen war alles, weil eine Tochter so schwer krank geworden war, dass sie im Klinikum Mostviertel behandelt werden musste, und die Ärzte Inzestverdacht schöpften. Einen Tag später – in Wien fand der Vienna City Marathon statt – öffnete die Polizei das mit einer massiven Betontür verschlossene Verlies. Im März 2009 wurde Fritzl, der mittlerweile anders heißt, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Überzeugend hatte er viele Jahre immer wieder die Geschichte seiner Familie erzählt. Dass seine Tochter bei einer Sekte sei, kein Kontakt bestehe: Seine Version von den Ereignissen hinter dieser Fassade in der Ybbsstraße. Fritzlstraße wurde sie dann genannt, manchmal Amstettner Kellergasse. Ein Schenkelklopfer für die, die es lustig fanden. Lustig fanden es manche auch, sich vor dem Haus fotografieren zu lassen. Vor der Eingangstür in der Mauernische, in der sich erst Blätter und Mist verfangen hatten, und die später mit Brettern verschlagen wurde.
Manchen wurde später bewusst, dass sie mehr Beziehung zu Fritzls Haus hatten als angenommen: Sie waren Mieter einer der Wohnungen – mit der Auflage, den Keller nicht zu betreten. Das hatte keinen Verdacht erregt. Viele, zum Teil Schüler der höheren Schulen Amstettens, hatten keinen Bedarf an einem Kellerabteil. Nach dem April 2008 stand das Haus leer. 2016 erwarb es die Frau eines Amstettner Gastronomen mit einer Geschäftspartnerin, brachte es in Schuss und vermietete zehn Wohneinheiten, zum Teil an das Personal. Eine Unterkunft für „junge Frauen“sei das, so das Gerücht, betreibt der Gastronom auch eine Gogobar. Doch vertraglich sei zugesichert worden, dass bei der Nutzung nichts Ehrenrühriges im Zusammenhang mit den früheren Geschehnissen stehen dürfe – was immer das heißen mag. Ein Mahnmal. Unverständlich ist vielen bis heute, dass der Keller vor fünf Jahren mit Beton aufgefüllt wurde, statt ihn auszugraben und zu zerstören. So bleibt er ein unsichtbares Mahnmal. An Ereignisse, an die man sich in Amstetten heute nicht sonderlich gern erinnert: aus Respekt vor den Opfern, die heute unter geändertem, auffällig unauffälligem Familiennamen nicht weit von Amstetten entfernt leben. Wobei – der Respekt wurde tatsächlich gelebt: Einige der Fritzl-Kinder waren damals noch schulpflichtig. Für ihre Klassenkollegen wäre es ein Leichtes gewesen, ein Foto zu schießen und teuer an den Boulevard zu verkaufen. Sie taten es nicht. Als die Familie zunächst im Landesklinikum Mauer bei Amstetten untergebracht war, bohrte niemand nach. Und obwohl der neue Name in Amstetten vielen bekannt ist, ist niemand in ihr Leben eingedrungen. Zumindest bis heute. Der Autor ist Redakteur der „Presse“. Er wuchs in der Ybbsstraße in Amstetten auf und hat Josef Fritzl auch persönlich gekannt.
Vielleicht liegt es am Ärger über die mediale Resonanz, warum man sich nicht gern erinnert: Vom „Fall Amstetten“war oft die Rede. So furchtbar, dass diese Verbrechen möglich gewesen waren, krankhaft perfekt geplant und umgesetzt: Es war nicht Amstetten, es war Fritzl. Und es mag an der Scheu vor den wieder hochkommenden Gefühlen liegen: Das Leid der Opfer zu sehen und die eigene Hilflosigkeit zu spüren, nichts unternommen zu haben, nicht bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmen könnte. Mit dem älteren, gepflegten Herrn.
Interviews möchte kaum jemand geben. Es solle ruhig bleiben, lautet der Wunsch.
Alltag und Anonymität. Wichtig war die große wie stille Feier im Mai 2008 auf dem Hauptplatz. Als Zeichen der Solidarität und des Respekts, bei der sich die Opfer mit einem Transparent für das Mitgefühl bedankten. Eine Feier, nicht als Abschluss, sondern als Mahnung, weder überzureagieren noch wegzuschauen. Mit der verblassenden Erinnerung ist gewichen, was der „Fall Fritzl“hervorgerufen hat: das Hinschauen, das Hinhören, die Sorge um die Nachbarn. Alltag ist eingekehrt, und die für eine 23.000-EinwohnerStadt nicht untypische Anonymität.
Andere Themen dominieren heute: vor ein paar Wochen die WM der Eisstockschützen beispielsweise, in diesen Tagen die blühenden Mostobstbäume. Daneben die Mühen, den Stadtkern zu beleben, der mit dem Einkaufszentrum konkurriert. Und die Pläne, einen neuen Stadtteil auf den Flächen der Bahn rund um Wasserturm und Remise zu errichten, die früher als Verschiebebahnhof gedient haben.
Und noch etwas wird diskutiert: Ob Amstetten 2023 die niederösterreichische Landesausstellung ausrichten darf. 125 Jahre wird das Landesklinikum Mauer dann alt, 1898 als „Irrenanstalt“für 1000 Patienten geplant. Sie hat dunkle Zeiten während des Dritten Reichs erlebt. Das Erinnern würde also auch dann eine Rolle spielen.
So wie in diesen Tagen. Zehn Jahre später haben diejenigen, die 2008 die Geschehnisse miterlebt haben, längst nicht vergessen. Interviews möchte kaum jemand geben. Es solle ruhig bleiben, lautet der Wunsch. Und alle, die aus voyeuristischen Gründen kommen wollen, möchte man am liebsten bitten, weder in Amstetten Ost noch in Amstetten West von der Autobahn abzufahren.