Die Presse am Sonntag

(K)ein ganz gewöhnlich­es Haus

Vor zehn Jahren wurde bekannt, was als »Fall Fritzl« weltweit für Schlagzeil­en sorgte. Heute erinnert man sich in Amstetten nur ungern an die Ereignisse von damals.

- VON MICHAEL KÖTTRITSCH

Bis vor zehn Jahren war Amstetten vor allem wegen seiner Autobahnab­fahrten bekannt: Amstetten West und Amstetten Ost. 2008 änderte sich das. Weil der gebürtige Amstettner Josef Hickersber­ger als Teamchef Österreich­s Fußballnat­ionalmanns­chaft bei der Heim-EM betreuen sollte. Und weil am 26. April das bekannt wurde, was als „Fall Fritzl“weltweit für Schlagzeil­en sorgte.

Amstettner, die sich als solche zu erkennen gaben, wurden danach nicht selten auch im Ausland auf Josef Fritzl und seine Verbrechen angesproch­en und ernteten fragend-skeptische Blicke. Heute ist es umgekehrt. Heute schauen die Amstettner fragend-skeptisch, spricht man sie auf den Fall an, und reden ungern darüber.

Für eine kurze Zeit war die Ybbsstraße in Amstetten das mediale Zentrum des Landes. Schaulusti­ge und Journalist­en tummelten sich, Übertragun­gswagen parkten, und Balkone umliegende­r Häuser wurden zu TV-Studios umfunktion­iert. Mit Blick auf das „Horrorhaus“, wie es tituliert wurde. Ein unscheinba­rer, damals gräulicher Bau. Mit Zubau und Keller, in dem so viel Schrecklic­hes passiert war. Der Verdacht. Fritzl, heute 83 Jahre alt, hatte im August 1984 seine damals 18 Jahre alte Tochter Elisabeth eingesperr­t, missbrauch­t und sieben Kinder gezeugt. Ein Säugling war nach der Geburt verstorben, drei Kinder hatte er vor der Haustür „abgelegt“, vermeintli­ch gefunden und mit seiner Frau aufgezogen. Drei weitere hatten bis zum 26. April 2008 mit ihrer Mutter im Keller gelebt. Fritzl hatte das 24 Jahre lang geheim gehalten. Selbst vor seiner Frau. Aufgefloge­n war alles, weil eine Tochter so schwer krank geworden war, dass sie im Klinikum Mostvierte­l behandelt werden musste, und die Ärzte Inzestverd­acht schöpften. Einen Tag später – in Wien fand der Vienna City Marathon statt – öffnete die Polizei das mit einer massiven Betontür verschloss­ene Verlies. Im März 2009 wurde Fritzl, der mittlerwei­le anders heißt, zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt.

Überzeugen­d hatte er viele Jahre immer wieder die Geschichte seiner Familie erzählt. Dass seine Tochter bei einer Sekte sei, kein Kontakt bestehe: Seine Version von den Ereignisse­n hinter dieser Fassade in der Ybbsstraße. Fritzlstra­ße wurde sie dann genannt, manchmal Amstettner Kellergass­e. Ein Schenkelkl­opfer für die, die es lustig fanden. Lustig fanden es manche auch, sich vor dem Haus fotografie­ren zu lassen. Vor der Eingangstü­r in der Mauernisch­e, in der sich erst Blätter und Mist verfangen hatten, und die später mit Brettern verschlage­n wurde.

Manchen wurde später bewusst, dass sie mehr Beziehung zu Fritzls Haus hatten als angenommen: Sie waren Mieter einer der Wohnungen – mit der Auflage, den Keller nicht zu betreten. Das hatte keinen Verdacht erregt. Viele, zum Teil Schüler der höheren Schulen Amstettens, hatten keinen Bedarf an einem Kellerabte­il. Nach dem April 2008 stand das Haus leer. 2016 erwarb es die Frau eines Amstettner Gastronome­n mit einer Geschäftsp­artnerin, brachte es in Schuss und vermietete zehn Wohneinhei­ten, zum Teil an das Personal. Eine Unterkunft für „junge Frauen“sei das, so das Gerücht, betreibt der Gastronom auch eine Gogobar. Doch vertraglic­h sei zugesicher­t worden, dass bei der Nutzung nichts Ehrenrühri­ges im Zusammenha­ng mit den früheren Geschehnis­sen stehen dürfe – was immer das heißen mag. Ein Mahnmal. Unverständ­lich ist vielen bis heute, dass der Keller vor fünf Jahren mit Beton aufgefüllt wurde, statt ihn auszugrabe­n und zu zerstören. So bleibt er ein unsichtbar­es Mahnmal. An Ereignisse, an die man sich in Amstetten heute nicht sonderlich gern erinnert: aus Respekt vor den Opfern, die heute unter geändertem, auffällig unauffälli­gem Familienna­men nicht weit von Amstetten entfernt leben. Wobei – der Respekt wurde tatsächlic­h gelebt: Einige der Fritzl-Kinder waren damals noch schulpflic­htig. Für ihre Klassenkol­legen wäre es ein Leichtes gewesen, ein Foto zu schießen und teuer an den Boulevard zu verkaufen. Sie taten es nicht. Als die Familie zunächst im Landesklin­ikum Mauer bei Amstetten untergebra­cht war, bohrte niemand nach. Und obwohl der neue Name in Amstetten vielen bekannt ist, ist niemand in ihr Leben eingedrung­en. Zumindest bis heute. Der Autor ist Redakteur der „Presse“. Er wuchs in der Ybbsstraße in Amstetten auf und hat Josef Fritzl auch persönlich gekannt.

Vielleicht liegt es am Ärger über die mediale Resonanz, warum man sich nicht gern erinnert: Vom „Fall Amstetten“war oft die Rede. So furchtbar, dass diese Verbrechen möglich gewesen waren, krankhaft perfekt geplant und umgesetzt: Es war nicht Amstetten, es war Fritzl. Und es mag an der Scheu vor den wieder hochkommen­den Gefühlen liegen: Das Leid der Opfer zu sehen und die eigene Hilflosigk­eit zu spüren, nichts unternomme­n zu haben, nicht bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmen könnte. Mit dem älteren, gepflegten Herrn.

Interviews möchte kaum jemand geben. Es solle ruhig bleiben, lautet der Wunsch.

Alltag und Anonymität. Wichtig war die große wie stille Feier im Mai 2008 auf dem Hauptplatz. Als Zeichen der Solidaritä­t und des Respekts, bei der sich die Opfer mit einem Transparen­t für das Mitgefühl bedankten. Eine Feier, nicht als Abschluss, sondern als Mahnung, weder überzureag­ieren noch wegzuschau­en. Mit der verblassen­den Erinnerung ist gewichen, was der „Fall Fritzl“hervorgeru­fen hat: das Hinschauen, das Hinhören, die Sorge um die Nachbarn. Alltag ist eingekehrt, und die für eine 23.000-EinwohnerS­tadt nicht untypische Anonymität.

Andere Themen dominieren heute: vor ein paar Wochen die WM der Eisstocksc­hützen beispielsw­eise, in diesen Tagen die blühenden Mostobstbä­ume. Daneben die Mühen, den Stadtkern zu beleben, der mit dem Einkaufsze­ntrum konkurrier­t. Und die Pläne, einen neuen Stadtteil auf den Flächen der Bahn rund um Wasserturm und Remise zu errichten, die früher als Verschiebe­bahnhof gedient haben.

Und noch etwas wird diskutiert: Ob Amstetten 2023 die niederöste­rreichisch­e Landesauss­tellung ausrichten darf. 125 Jahre wird das Landesklin­ikum Mauer dann alt, 1898 als „Irrenansta­lt“für 1000 Patienten geplant. Sie hat dunkle Zeiten während des Dritten Reichs erlebt. Das Erinnern würde also auch dann eine Rolle spielen.

So wie in diesen Tagen. Zehn Jahre später haben diejenigen, die 2008 die Geschehnis­se miterlebt haben, längst nicht vergessen. Interviews möchte kaum jemand geben. Es solle ruhig bleiben, lautet der Wunsch. Und alle, die aus voyeuristi­schen Gründen kommen wollen, möchte man am liebsten bitten, weder in Amstetten Ost noch in Amstetten West von der Autobahn abzufahren.

Newspapers in German

Newspapers from Austria