Ein derber Jäger wildert in edlen Bars
Aus dem Seniorenlikör Jägermeister das Party-Schmiermittel der Jugend zu machen, war einer der größten Marketingcoups der frühen Nullerjahre. Aber die neue Generation mag es nicht mehr so schrill – und der Hirsch röhrt nun eleganter.
Auf die Plätze, fertig, betrunken. Man kann so albern anstoßen mit den kleinen Jägermeister-Fläschchen, und ebenso ölig wie eilig flutscht der bittersüße Kräuterlikör durch die Kehlen. Schon nach wenigen Runden bauen die Zechkumpanen Türme aus den Miniaturgebinden, stecken sich den Drehverschluss auf die Nasen oder vergnügen sich mit Trinkspielen. Dazu laufen volkstümelnde Schlager, Apres-` Ski-Hits oder „Zehn kleine Jägermeister“, der derbe Funpunk-Song von den Toten Hosen. Und alle grölen mit.
Wo der eine in seligen Erinnerungen schwelgt, wendet sich der andere mit Grausen ab. Fest steht: Was das Unternehmen Mast-Jägermeister um 2000 herum geschafft hat, taugt zur Fallstudie für die Lehrbücher von Business Schools: Wie drehe ich das Image einer Marke um 180 Grad, wie verschaffe ich ihr eine völlig andere Zielgruppe, und das alles ohne das Werbebudget eines Weltkonzerns? Ein neues Kapitel dieser Case Study wird gerade erst geschrieben. Wieder ist ein Wandel fällig – und er scheint zu gelingen.
Einst kam aus dem Fachwerkstädtchen Wolfenbüttel in Niedersachsen ein biederer Magenbitter wie viele andere auch. Das klassische Gebräu, mit dem sich Großvater nach dem üppigen Abendessen in den Ohrenfauteuil zurückzieht und beim Schlürfen einschlummert. Eine Cashcow, die man kaum bewerben muss, die aber ein Ablaufdatum hat. Wie Marketingleute bei trockenen Scheuermitteln oder Mundwässerchen zu sagen pflegen: Jeder Grabstein ein Kunde weniger. Clubbing statt Kloster. Dann aber das: Party aus vollen Rohren, laut, derb, schrill. Ein Auftritt in knallorange, freche Fernsehspots mit Rudi und Ralph. Promotions mit Mädels, die sehr viel Haut zeigen. Sponsoring fürs GTI-Treffen am Wörthersee. Keine Scheu vor hohem Proll-Faktor. Vor allem aber: Keine Feier ohne Jägermeister, vom Vereinstreffen bis zum Clubbing. So verwandelte sich der Hubertus-Hirsch zur Partyikone. Der Coup gelang: Jägermeister ist heute unangefochten die globale Nummer eins unter den Kräuterlikören. Bei den Spirituosen insgesamt belegt die Marke den achten Rang weltweit. Keine andere aus dem deutschsprachigen Raum hat es auch nur annähernd so weit nach oben geschafft (siehe Grafik).
Freilich war der Drink immer schon etwas anders als die Konkurrenz. Die Geschichte der meisten Kräuterliköre beginnt in einem mittelalterlichen Kloster, mit einem von Mönchen sorgsam gehüteten Geheimrezept. Die frommen Männer lösten aus Blüten, Rinden, Wurzeln, Blättern und Beeren im Alkoholbad die Duftund Geschmacksstoffe. Sie vermengten dieses Mazerat mit Wasser und Zucker zu ihrem ganz speziellen Zaubertrank. Die Rezeptur für Jägermeister aber hat ganz unromantisch erst 1935 ein gewisser Curt Mast erfunden. Geheim ist aber auch sie. 31 von 56 Inhaltsstoffen kann auch ein geübter Gaumen nicht herausschmecken. Unleugbar ist: Sternanis sorgt für die Süße, Ingwer für die Schärfe, dazu kommen Koriander, Zimt und Lavendel.
Auch der versprochene Effekt war innerhalb der Branche lange ident: den Magen ausputzen. Was die moderne Medizin entzaubert hat: Zwar regen die Bitterstoffe die Verdauung an, aber das tut ein Espresso oder Kräutertee auch. Der Alkohol ist dabei nur hinderlich. Er betäubt aber die Magennerven und nimmt so rasch das Völlegefühl nach einem fetten Mahl – eine willkommene Symptombekämpfung, die auch jeder andere Schnaps bieten kann. Solch ärgerliche Enthüllungen mögen ein Grund mehr für das Management gewesen sein, alles auf den Kopf zu stellen. Das neue Versprechen: Jägermeister als Gemeinschaftsgetränk für junge Spaß- und Wirkungstrinker. So ließ man Fernet, Averna und Ramazzotti hinter sich. Die Konkurrenten können zwar mit dem Italo-Image punkten, aber sie sind im Grunde jene ruhigen Getränke für gesetztes Publikum geblieben, die sie immer waren. Marketing aus Graz. Der JägermeisterRelaunch war ein Riesenerfolg, aber seine Wirkung währt nicht ewig. Anders als bei Ö3 altert hier das Publikum nicht mit dem Produkt. Irgendwann fühlt sich (fast) jeder zu erwachsen für Billig-Shots und Partylärm. Die Kernzielgruppe bleibt gleich: die 18- bis 24-Jährigen. Aber als „Millennials“oder „Digital Natives“ticken sie anders als ihre Vorgänger. Nirgends weiß man das besser als bei der Destillerie Bauer in Graz. Das Unternehmen, das auch selbst Schnaps herstellt und mit anderen Marken handelt, war vor 50 Jahren der erste Export-Lizenznehmer von Jägermeister. Um Logistikkosten zu sparen, füllte man das Mazerat vor Ort mit Wasser, Alkohol und Zucker auf. Später folgten weitere Abfüller im Ausland, bis nach Brasilien spannte sich das Netz.
Man gab sie auf, um die Qualität konstant zu halten. Nur Graz blieb. Denn im nahen Köflach stellt der Glashersteller Stölzle die kultigen Kleinstflaschen her. Und diese 2cl-Gebinde sind nur in Österreich so populär, wie Bauer-Geschäftsführer Oliver Dombrowski erklärt: „Wir sind da Weltmeister.“Mit der Flasche anstoßen, Türme bauen und Trinkspiele rund um die Zahl am Flaschenboden: „Das macht man woanders kaum.“
Zum Außenposten Graz gehört auch eine Lizenz zum Vermarkten in Österreich. Wolfenbüttel stellt dafür ein Werbebudget zur Verfügung. Zu tun gibt es genug: „Die neue Genera- tion mag den Krawall nicht mehr“, erklärt Anna Zenz, die in Graz für die Markenführung sorgt. Also: nicht mehr so laut, provokant oder gar leicht sexistisch – „da hat man gleich eine Hashtag-Kampagne am Hals“. Die Farben werden wärmer. Die Kooperation mit dem GTI-Treffen lief schon vor fünf Jahren aus. Alkohol und Autofahren passen dann doch nicht so gut zusammen, lautet die späte Erkenntnis.
Kopfzerbrechen bereitet die steigende Zahl der Fleischverächter: Weil in der Produktion keine tierischen Filterstoffe zum Einsatz kommen, könnte man das Produkt mit Fug und Recht als vegan vermarkten. Aber weil es leider „Jägermeister“heißt, hat die Zentrale dann doch die Finger davon gelassen: „Der Shitstorm wäre wohl gewaltig gewesen“, seufzt Zenz – und schmunzelt.
Auch das geänderte Medienverhalten zwingt zu neuen Wegen, einem mühsamen Mikro-Marketing. Die Jungen schauen nicht mehr fern. Sie sind fast nur noch über soziale Netzwerke zu erreichen, wobei Facebook längst von Instagram abgelöst wurde. Es gilt, an den „Influencern“dran zu sein, den Meinungsmachern im digitalen Raum. Und an ihren analogen Pendants: Musiker, Wirte, Barkeeper. Sie alle trommeln zu Events. Busse führen die Gäste zu Überraschungslocations: Jagdhüt- Weltweit 2016, in Millionen Litern Österreich 232,2 155,7 154,8 112,5 99,0 63,9 0,8 0,7 ten, die Kaiserloge in der Freudenau, Burg Rabenstein in der Steiermark. Dort sorgen „Jägeretten“, ein Team von österreichweit 40 Studenten, für Stimmung und Ordnung. An schönen Orten schießen alle schöne Fotos, die dann im Netz die Runde machen.
„Sich wegblasen war gestern“, betont Dombrowski. Stattdessen umwirbt er die besten Bartender im „Hubertus Circle“mit Aromakarten und Rezeptideen für Cocktails. In 25 ausgesuchten Premium-Bars serviert man „Manifest“, die hellere Luxusversion des Trunkes, über ein Jahr lang im Eichenfass gereift. Das soll auch Freunde von edlem Scotch oder altem Rum auf den Geschmack bringen. Denn der Spirituosenmarkt ist heiß umkämpft: Welt-
Keine Feier ohne Jägermeister: So wurde aus dem HubertusHirsch eine Partyikone. Junge erreicht man nur per Instagram und Influencer. Das macht Marketing mühsam.
weit stagniert er fast. Die Mittelschicht in den Schwellenländern trinkt mehr, die Menschen der westlichen Welt aus Sorge um die Gesundheit weniger – das gleicht sich so ziemlich aus. In Österreich ist das Segment seit 2011 rückläufig, nur Gin und Whiskey legen zu. Für die Marken gilt: Wer wachsen will, muss anderen Marktanteile abjagen. Aperol ist bitter. Jägermeister schafft das namenskonform gut. Überrundet ist auch Gurktaler, früher der heimische Platzhirsch unter den Kräuterschnäpsen. Aber die Erfolgsstory eines neueren Konkurrenten ist wahrlich bitter: Wie aus dem Nichts ist vor gut einem Jahrzehnt Aperol aufgetaucht, aufgespritzt und auf dem „A“betont. Seit 2010 ist der Frucht-Kräuterbitter, den es in seiner Heimat Italien schon seit 100 Jahren gibt, in Österreich Marktführer. An die Spitze schaffte er es ohne viel Werbung, ohne konzertierten Relaunch. Der Trend kam aus der Gastronomie, gespeist aus verklärten Erinnerungen von Venedig-Reisenden. Fürs Erste, so scheint es, hat damit der Jäger seinen Meister gefunden.