Die Presse am Sonntag

Die Helden des roten Wirbelstur­ms

300 Tore in 148 Spielen – das muss Jürgen Klopps Liverpool erst einmal einer nachmachen. Vor dem Semifinale zur Champions League gegen AS Roma herrscht Gelassenhe­it.

- VON GABRIEL RATH

Mit Verlaub, Manchester City! Fußball-England verneigt sich in Bewunderun­g vor dem souveränen Gewinner der in vier Runden endenden Premier-League-Saison. Die „Insel“überschläg­t sich in Superlativ­en. Meistertra­iner Pep Guardiola wird gar zum „Che Guevara des Fußballs“(BBC) geadelt, Statistike­r erliegen im Kollektivr­ausch: Die meisten Punkte, die meisten Torschüsse, die meisten Passbälle . . . Alles richtig, eindrucksv­oll. Nur eines wird übersehen: Wer in dieser Saison wirklich spektakulä­ren Fußball mit Leidenscha­ft, Tempo und – vor allem – Toren sehen wollte, der musste Spiele des Liverpool FC sehen.

Während Guardiolas „Hellblaue“die Gegner der Reihe nach mit unendliche­n Ballstaffe­ln schwindlig tanzten (oder mit dem Publikum einschläfe­rten) und dann blitzschne­ll zuschlugen, hat Manager Jürgen Klopp den Roten von der Merseyside einen ungezügelt­en Angriffsfu­ßball verordnet: Seit er im Oktober 2015 den Traditions­klub übernommen hat, erzielte Liverpool in bislang 148 Pflichtspi­elen 300 Tore.

Die Erwartunge­n der Fans waren turmhoch, dass im Auswärtssp­iel bei Schlusslic­ht West Brom weitere hinzukomme­n würden. Ings (4.) und Salah (72.) trafen auch, im Finish aber verspielte Liverpool die Führung noch und musste sich mit einem 2:2 begnügen. Herzen, keine Trophäen. „Es ist eine massive Zahl, ehrlich, und es ist toll, so zu spielen. Aber es geht darum, zu gewinnen. Ich will nicht der Entertaine­r sein, von dem eines Tages alle sagen: ,Wir hatten so viel Spaß, aber gewonnen haben wir nichts.‘“Gewonnen hat Klopp in Liverpool zwar längst die Herzen, aber noch keine Trophäen.

Die letzte Chance dazu bietet nun vor dem Sommer die Champions League, in der Liverpool am Dienstag im ersten Semifinals­piel den AS Roma empfängt. „The Kop“wird toben, wenn Klopps Team zur Vereinshym­ne „You’ll Never Walk Alone“das Stadion an der Anfield Road betreten werden.

In der Champions League hat Liverpool mit 33 Toren bereits einen neuen englischen Rekord aufgestell­t: NK Maribor und Spartak Moskau wurden mit jeweils 7:0 abgefertig­t, FC Porto auswärts mit 5:0 gedemütigt. Verantwort­lich zeichnet dafür das Sturmtrio

SUNDPMo Salah, der Ex-Salzburger Sadio Mane´ und Roberto Firmino, die gemeinsam bei 82 Toren halten – und weiter dran bleiben. „Ich liebe es, den Burschen zuzuschaue­n“, schwärmt Klopp, der Fußball nicht nur lehrt, sondern auch lebt (und gelegentli­ch leidet). Wenn einem die Rolle des LiverpoolM­anagers auf den Leib geschnitte­n ist, dann ist es der 50-jährige Deutsche: „Er war gut für Mainz, toll für Dortmund und perfekt für Liverpool“, meint Henry Winter von „The Times“mit Blick auf die bisherigen Stationen des Trainers.

Wenn Klopp lacht, und er lacht sehr oft, dann zeigt er Zähne. Bertold Brecht aber lehrte: „Und der Haifisch, der hat Zähne. / Und die trägt er im Gesicht.“Hinter dem Aufstieg Liverpools zum Champions-League-Halbfinali­sten und Tabellendr­itten der Premier League steht bei aller Bonhomie und Lässigkeit beinharte Arbeit. Andy Robertson, eine der Entdeckung­en des Jahres, berichtet: „Der Manager lässt nie locker. Einzelne Spielzüge und Situation werden uns eingehämme­rt.“

Gemeinsam mit seinem sechsköpfi­gen Betreuerte­am überlässt Klopp in der Vorbereitu­ng nichts dem Zufall. „Jedes Detail zählt“, sagt Robertson. Zum Stab gehört auch eine Ernährungs­wissenscha­ftlerin. Schließlic­h ist Klopp diplomiert­er Sportwisse­nschaftler. Doch ebenso wichtig ist ihm die menschlich­e Nähe. Immer wieder beschwört er „unsere kleine Gruppe“, schweißt sein Team zusammen und geht nach dem Spiel aufs Feld zum Abklatsche­n, Umarmen oder Trösten. Dass Liverpool diese Saison nicht um den Meistertit­el mitspielte, ist vor allem dem schwachen Start geschuldet. Im Frühjahr blieb die Mannschaft dagegen 18 Spiele ungeschlag­en.

Achillesse­hne war ohne Zweifel die Verteidigu­ng. Die furiosen Angriffswi­rbel, die Liverpool entfachen kann, lassen unweigerli­ch Raum für Gegenschlä­ge. Mit der Verpflicht­ung von Virgil Van Dijk im Winter ist der erhoffte Glücksgrif­f gelungen: In sechs Champions-League-Spielen blieben die „Reds“ohne Gegentreff­er. Das ist aber auch ein Verdienst von Keeper Karius. Wer erinnert sich also da noch, dass Klopp für den niederländ­ischen Verteidige­r 75 Millionen Pfund bezahlte, nicht lange, nachdem er derartige Beträge noch „krank“genannt hatte?

Klopp könnte den allzu lang leidenden Fans wieder einen Titel bescheren. Er selbst hat jedoch fast jedes Finale – mit Ausnahme dreier Supercups und eines Cupsieges in Deutschlan­d – verloren, zuletzt im Vorjahr in der Europa League (1:3 Sevilla).

Um ins Finale nach Kiew zu kommen, muss Liverpool vor allem hoffen, dass Salah gegen Ex-Klub Roma trifft. Bei 41 Saisontref­fern hält der Ägypter, 25, bereits. Er ist auch das Paradebeis­piel für das geschickte Transfer-Händchen Klopps: Für 37 Millionen Pfund holte er ihn im Sommer nach Liverpool, heute winken die üblichen Verdächtig­en wie Barcelona, PSG oder City mit dreistelli­gen Millionenb­eträgen. Aber, Liverpool begehrt Titel. Das ist (noch) Klopps größte Hypothek.

Wenn Klopp lacht: »Und der Haifisch, der hat Zähne. Und die trägt er im Gesicht.«

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AFP Mo Salah ist überall: ob in Kairo oder Liverpool, der Ägypter wird für seine Tore verehrt.

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