Die Helden des roten Wirbelsturms
300 Tore in 148 Spielen – das muss Jürgen Klopps Liverpool erst einmal einer nachmachen. Vor dem Semifinale zur Champions League gegen AS Roma herrscht Gelassenheit.
Mit Verlaub, Manchester City! Fußball-England verneigt sich in Bewunderung vor dem souveränen Gewinner der in vier Runden endenden Premier-League-Saison. Die „Insel“überschlägt sich in Superlativen. Meistertrainer Pep Guardiola wird gar zum „Che Guevara des Fußballs“(BBC) geadelt, Statistiker erliegen im Kollektivrausch: Die meisten Punkte, die meisten Torschüsse, die meisten Passbälle . . . Alles richtig, eindrucksvoll. Nur eines wird übersehen: Wer in dieser Saison wirklich spektakulären Fußball mit Leidenschaft, Tempo und – vor allem – Toren sehen wollte, der musste Spiele des Liverpool FC sehen.
Während Guardiolas „Hellblaue“die Gegner der Reihe nach mit unendlichen Ballstaffeln schwindlig tanzten (oder mit dem Publikum einschläferten) und dann blitzschnell zuschlugen, hat Manager Jürgen Klopp den Roten von der Merseyside einen ungezügelten Angriffsfußball verordnet: Seit er im Oktober 2015 den Traditionsklub übernommen hat, erzielte Liverpool in bislang 148 Pflichtspielen 300 Tore.
Die Erwartungen der Fans waren turmhoch, dass im Auswärtsspiel bei Schlusslicht West Brom weitere hinzukommen würden. Ings (4.) und Salah (72.) trafen auch, im Finish aber verspielte Liverpool die Führung noch und musste sich mit einem 2:2 begnügen. Herzen, keine Trophäen. „Es ist eine massive Zahl, ehrlich, und es ist toll, so zu spielen. Aber es geht darum, zu gewinnen. Ich will nicht der Entertainer sein, von dem eines Tages alle sagen: ,Wir hatten so viel Spaß, aber gewonnen haben wir nichts.‘“Gewonnen hat Klopp in Liverpool zwar längst die Herzen, aber noch keine Trophäen.
Die letzte Chance dazu bietet nun vor dem Sommer die Champions League, in der Liverpool am Dienstag im ersten Semifinalspiel den AS Roma empfängt. „The Kop“wird toben, wenn Klopps Team zur Vereinshymne „You’ll Never Walk Alone“das Stadion an der Anfield Road betreten werden.
In der Champions League hat Liverpool mit 33 Toren bereits einen neuen englischen Rekord aufgestellt: NK Maribor und Spartak Moskau wurden mit jeweils 7:0 abgefertigt, FC Porto auswärts mit 5:0 gedemütigt. Verantwortlich zeichnet dafür das Sturmtrio
SUNDPMo Salah, der Ex-Salzburger Sadio Mane´ und Roberto Firmino, die gemeinsam bei 82 Toren halten – und weiter dran bleiben. „Ich liebe es, den Burschen zuzuschauen“, schwärmt Klopp, der Fußball nicht nur lehrt, sondern auch lebt (und gelegentlich leidet). Wenn einem die Rolle des LiverpoolManagers auf den Leib geschnitten ist, dann ist es der 50-jährige Deutsche: „Er war gut für Mainz, toll für Dortmund und perfekt für Liverpool“, meint Henry Winter von „The Times“mit Blick auf die bisherigen Stationen des Trainers.
Wenn Klopp lacht, und er lacht sehr oft, dann zeigt er Zähne. Bertold Brecht aber lehrte: „Und der Haifisch, der hat Zähne. / Und die trägt er im Gesicht.“Hinter dem Aufstieg Liverpools zum Champions-League-Halbfinalisten und Tabellendritten der Premier League steht bei aller Bonhomie und Lässigkeit beinharte Arbeit. Andy Robertson, eine der Entdeckungen des Jahres, berichtet: „Der Manager lässt nie locker. Einzelne Spielzüge und Situation werden uns eingehämmert.“
Gemeinsam mit seinem sechsköpfigen Betreuerteam überlässt Klopp in der Vorbereitung nichts dem Zufall. „Jedes Detail zählt“, sagt Robertson. Zum Stab gehört auch eine Ernährungswissenschaftlerin. Schließlich ist Klopp diplomierter Sportwissenschaftler. Doch ebenso wichtig ist ihm die menschliche Nähe. Immer wieder beschwört er „unsere kleine Gruppe“, schweißt sein Team zusammen und geht nach dem Spiel aufs Feld zum Abklatschen, Umarmen oder Trösten. Dass Liverpool diese Saison nicht um den Meistertitel mitspielte, ist vor allem dem schwachen Start geschuldet. Im Frühjahr blieb die Mannschaft dagegen 18 Spiele ungeschlagen.
Achillessehne war ohne Zweifel die Verteidigung. Die furiosen Angriffswirbel, die Liverpool entfachen kann, lassen unweigerlich Raum für Gegenschläge. Mit der Verpflichtung von Virgil Van Dijk im Winter ist der erhoffte Glücksgriff gelungen: In sechs Champions-League-Spielen blieben die „Reds“ohne Gegentreffer. Das ist aber auch ein Verdienst von Keeper Karius. Wer erinnert sich also da noch, dass Klopp für den niederländischen Verteidiger 75 Millionen Pfund bezahlte, nicht lange, nachdem er derartige Beträge noch „krank“genannt hatte?
Klopp könnte den allzu lang leidenden Fans wieder einen Titel bescheren. Er selbst hat jedoch fast jedes Finale – mit Ausnahme dreier Supercups und eines Cupsieges in Deutschland – verloren, zuletzt im Vorjahr in der Europa League (1:3 Sevilla).
Um ins Finale nach Kiew zu kommen, muss Liverpool vor allem hoffen, dass Salah gegen Ex-Klub Roma trifft. Bei 41 Saisontreffern hält der Ägypter, 25, bereits. Er ist auch das Paradebeispiel für das geschickte Transfer-Händchen Klopps: Für 37 Millionen Pfund holte er ihn im Sommer nach Liverpool, heute winken die üblichen Verdächtigen wie Barcelona, PSG oder City mit dreistelligen Millionenbeträgen. Aber, Liverpool begehrt Titel. Das ist (noch) Klopps größte Hypothek.
Wenn Klopp lacht: »Und der Haifisch, der hat Zähne. Und die trägt er im Gesicht.«