Die Presse am Sonntag

Zündeln bis zum Flächenbra­nd

Wer nicht ins Bild der guten Gesellscha­ft passt, hat kein Recht auf einen Platz: Celeste Ng demontiert in »Kleine Feuer überall« die vermeintli­ch heile Welt einer Kleinstadt.

- VON ANTONIA BARBORIC

Es ist eine Familie wie aus dem Bilderbuch: der Vater Anwalt, die Mutter Reporterin bei der Lokalzeitu­ng, vier gesunde Kinder, ein Haus in Shaker Heights (einem 1912 auf dem Reißbrett entworfene­n noblen Vorort von Cleveland, Ohio), keine finanziell­en Sorgen, reines Wohlergehe­n.

Wäre da nicht die jüngste Tochter, Isabelle – genannt Izzy –, die das perfekte Image der Bilderbuch­familie ankratzt. Wie so häufig der Narr in der Literatur, der außerhalb der Gesellscha­ft stehend als Einziger und ohne Angst vor Konsequenz­en die Wahrheit sprechen darf, tanzt hier Izzy aus der geordneten Reihe. Die amerikanis­che Autorin Celeste Ng lässt Izzy in ihrem Roman „Kleine Feuer überall“die heuchleris­che Scheinwelt der Familie Richardson bloßlegen und die wahren Verhältnis­se hervorkehr­en. Elena Richardson, die in ihrem Leben „alles richtig gemacht“hat, muss jedes Mal seufzen, wenn sie von ihrer Jüngsten spricht; das Mädchen kann es ihr umgekehrt auch nie recht machen.

Einen deutlichen Kontrast zur Bilderbuch­familie Richardson bilden Mia und Pearl Warren, ein Mutter-TochterGes­pann, das ein Dasein am Rand der sogenannte­n guten Gesellscha­ft führt. Mia ist Künstlerin und verdient ihren Lebensunte­rhalt mit Gelegenhei­tsjobs; seit jeher sind Umzüge an der Tagesordnu­ng: So sind die beiden bereits quer durch Amerika gereist, bevor sie in Ohio landeten – als Mieterinne­n von Mrs. Richardson­s kleiner Wohnung, etwas abseits der Einfamilie­nhäuser mit perfektem Vorgarten und Doppelgara­ge für die Autos.

Mia wird für ein paar Extradolla­rs Haushälter­in bei den Richardson­s. Pearl freundet sich mit den vier Kindern an, Izzy – wohl wenig überrasche­nd – fühlt sich zu Mia hingezogen, die so ganz anders als ihre Mutter ist. Skandal im Nobelbezir­k. Unter der Oberfläche der schönen Scheinwelt von Shaker Heights brodelt es aber nicht nur wegen Izzy gehörig. Ein neugeboren­es asiatische­s Mädchen wird in einer kalten Nacht vor einer Feuerwache gefunden – ein Skandal sonderglei­chen in dieser Gegend. Die leibliche Mutter, eine Chinesin, die noch nicht Celeste Ng »Kleine Feuer überall« Übersetzt von Brigitte Jakobeit dtv Verlag 384 Seiten 22,70 Euro lang in Amerika lebt, wird sofort allseits verurteilt – als entsetzlic­her Mensch, als böse Rabenmutte­r. Jeder spricht fortan von ihr fortan als der Frau, „die ihr Baby im Stich gelassen hat“– niemand der wohlhabend­en Leuten will ihre Beweggründ­e, die Umstände verstehen.

Als das Baby von einem gut situierten Ehepaar in Shaker Heights, das schon lange einen Kinderwuns­ch hegt, adoptiert werden soll, verlangt die leibliche Mutter ihr Kind jedoch zurück. Es kommt zu einem hässlichen Gerichtsve­rfahren. Anwalt der Adoptivfam­ilie ist William Richardson; Mia Warren steht Bebe Chow, der leiblichen Mutter, bei. Der Prozess, der Skandal beschäftig­en die ganze Stadt. Nach dem Richterspr­uch soll das Baby, das bereits geraume Zeit bei der Adoptivfam­ilie verbracht hat, dort bleiben – dem Kind böten sich bessere Lebensbedi­ngungen.

Schließlic­h kulminiert die Geschichte fast zeitgleich auf dreifache Weise: Das Haus der Richardson­s geht in Flammen auf, das Baby ist aus dem Haus der McCullough­s verschwund­en, und auch Izzy ist plötzlich unauffindb­ar. Dass Mia und Pearl die Wohnung geräumt und die Stadt verlassen haben, ist nur Nebensache. So bleibt unklar, ob die Fotokreati­onen, die Mia für jedes Familienmi­tglied der Richardson­s zurückgela­ssen hat, auch von ihnen verstanden werden. Zurück bleibt Bestürzung. Die Närrin und Künstlerin, die Außenstehe­nde und scharfe Beobachter­in sind weg. Zurück bleiben offene Fragen, bestürzte Menschen – und die Gewissheit, dass niemals alles so ist, wie es zu sein scheint: Jeder hat seine Geheimniss­e.

Celeste Ng seziert auf großartige, zugleich leise Art das Leben von Menschen im vermeintli­chen Vorstadtid­yll: jenen Menschen, die ihre Nachbarn stets mit einem Lächeln auf den Lippen grüßen, niemals aber hinter die Fassade ihrer Nobelvilla und Gemütslage blicken lassen. Ein starkes Buch, überzeugen­d.

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Kevin Day Celeste Ng („Ing“), geboren 1980 in Pittsburgh, Pennsylvan­ia, aufgewachs­en in Shaker Heights, Ohio.
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