Zündeln bis zum Flächenbrand
Wer nicht ins Bild der guten Gesellschaft passt, hat kein Recht auf einen Platz: Celeste Ng demontiert in »Kleine Feuer überall« die vermeintlich heile Welt einer Kleinstadt.
Es ist eine Familie wie aus dem Bilderbuch: der Vater Anwalt, die Mutter Reporterin bei der Lokalzeitung, vier gesunde Kinder, ein Haus in Shaker Heights (einem 1912 auf dem Reißbrett entworfenen noblen Vorort von Cleveland, Ohio), keine finanziellen Sorgen, reines Wohlergehen.
Wäre da nicht die jüngste Tochter, Isabelle – genannt Izzy –, die das perfekte Image der Bilderbuchfamilie ankratzt. Wie so häufig der Narr in der Literatur, der außerhalb der Gesellschaft stehend als Einziger und ohne Angst vor Konsequenzen die Wahrheit sprechen darf, tanzt hier Izzy aus der geordneten Reihe. Die amerikanische Autorin Celeste Ng lässt Izzy in ihrem Roman „Kleine Feuer überall“die heuchlerische Scheinwelt der Familie Richardson bloßlegen und die wahren Verhältnisse hervorkehren. Elena Richardson, die in ihrem Leben „alles richtig gemacht“hat, muss jedes Mal seufzen, wenn sie von ihrer Jüngsten spricht; das Mädchen kann es ihr umgekehrt auch nie recht machen.
Einen deutlichen Kontrast zur Bilderbuchfamilie Richardson bilden Mia und Pearl Warren, ein Mutter-TochterGespann, das ein Dasein am Rand der sogenannten guten Gesellschaft führt. Mia ist Künstlerin und verdient ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs; seit jeher sind Umzüge an der Tagesordnung: So sind die beiden bereits quer durch Amerika gereist, bevor sie in Ohio landeten – als Mieterinnen von Mrs. Richardsons kleiner Wohnung, etwas abseits der Einfamilienhäuser mit perfektem Vorgarten und Doppelgarage für die Autos.
Mia wird für ein paar Extradollars Haushälterin bei den Richardsons. Pearl freundet sich mit den vier Kindern an, Izzy – wohl wenig überraschend – fühlt sich zu Mia hingezogen, die so ganz anders als ihre Mutter ist. Skandal im Nobelbezirk. Unter der Oberfläche der schönen Scheinwelt von Shaker Heights brodelt es aber nicht nur wegen Izzy gehörig. Ein neugeborenes asiatisches Mädchen wird in einer kalten Nacht vor einer Feuerwache gefunden – ein Skandal sondergleichen in dieser Gegend. Die leibliche Mutter, eine Chinesin, die noch nicht Celeste Ng »Kleine Feuer überall« Übersetzt von Brigitte Jakobeit dtv Verlag 384 Seiten 22,70 Euro lang in Amerika lebt, wird sofort allseits verurteilt – als entsetzlicher Mensch, als böse Rabenmutter. Jeder spricht fortan von ihr fortan als der Frau, „die ihr Baby im Stich gelassen hat“– niemand der wohlhabenden Leuten will ihre Beweggründe, die Umstände verstehen.
Als das Baby von einem gut situierten Ehepaar in Shaker Heights, das schon lange einen Kinderwunsch hegt, adoptiert werden soll, verlangt die leibliche Mutter ihr Kind jedoch zurück. Es kommt zu einem hässlichen Gerichtsverfahren. Anwalt der Adoptivfamilie ist William Richardson; Mia Warren steht Bebe Chow, der leiblichen Mutter, bei. Der Prozess, der Skandal beschäftigen die ganze Stadt. Nach dem Richterspruch soll das Baby, das bereits geraume Zeit bei der Adoptivfamilie verbracht hat, dort bleiben – dem Kind böten sich bessere Lebensbedingungen.
Schließlich kulminiert die Geschichte fast zeitgleich auf dreifache Weise: Das Haus der Richardsons geht in Flammen auf, das Baby ist aus dem Haus der McCulloughs verschwunden, und auch Izzy ist plötzlich unauffindbar. Dass Mia und Pearl die Wohnung geräumt und die Stadt verlassen haben, ist nur Nebensache. So bleibt unklar, ob die Fotokreationen, die Mia für jedes Familienmitglied der Richardsons zurückgelassen hat, auch von ihnen verstanden werden. Zurück bleibt Bestürzung. Die Närrin und Künstlerin, die Außenstehende und scharfe Beobachterin sind weg. Zurück bleiben offene Fragen, bestürzte Menschen – und die Gewissheit, dass niemals alles so ist, wie es zu sein scheint: Jeder hat seine Geheimnisse.
Celeste Ng seziert auf großartige, zugleich leise Art das Leben von Menschen im vermeintlichen Vorstadtidyll: jenen Menschen, die ihre Nachbarn stets mit einem Lächeln auf den Lippen grüßen, niemals aber hinter die Fassade ihrer Nobelvilla und Gemütslage blicken lassen. Ein starkes Buch, überzeugend.