Die Presse am Sonntag

New Yorks kaputte U-Bahn

Unfälle, eingesperr­te Fahrgäste, endlose Verspätung­en und Stationen, in denen es regnet. Eines der bekanntest­en Transitsys­teme der Welt ist dem Kollaps nahe. Die Politik reagiert zäh.

- VON STEFAN RIECHER

Und dann kam das Wasser aus allen Richtungen: Hunderttau­sende Pendler, die wie jeden Montag auf dem Weg in die Arbeit in Midtown Manhattan waren, trauten ihren Augen nicht. Mehrere U-Bahn-Stationen standen unter Wasser, von den Decken troff es wie aus Kübeln, und die Treppen Richtung Straße verwandelt­en sich in gefährlich­e Wasserfäll­e. „Willkommen in der Hölle“, schrieb ein Pendler auf Twitter, und das nächste Kapitel im langen Buch über New Yorks kaputte U-Bahn war aufgeschla­gen.

Überrasche­nd kam das Regendrama diese Woche keineswegs. Wer das riesige Transitsys­tem der Millionenm­etropole mit seinen rund 450 Stationen regelmäßig benützt, ist längst abgestumpf­t und hat sich an alle möglichen Zwischenfä­lle gewöhnt. Horrende Verspätung­en, Züge, die zwischen den Stationen oftmals bis zu einer halben Stunde stehen bleiben, und Stromausfä­lle, die die Waggons während der Reise stockfinst­er werden lassen, zählen noch zu den harmlosere­n Beispielen. Herabfalle­nde Betonklötz­e, nicht funktionie­rende Klimaanlag­en bei Temperatur­en jenseits von 40 Grad Celsius und Entgleisun­gen mit Dutzenden Verletzten zu den weniger harmlosen. Jahrelang hat die Politik das Problem ignoriert und Investitio­nen in die mehr als 100 Jahre alte unterirdis­che Parallelwe­lt verabsäumt. Wie so oft spießt es sich am Geld. Die Stadtverwa­ltung New Yorks verlangt mehr Unterstütz­ung vom Bundesstaa­t New York, an dessen Südzipfel die bevölkerun­gsreichste Stadt der USA liegt. Der Gouverneur des schwer defizitäre­n Bundesstaa­ts wiederum muss sparen. Zudem versucht er, auch andere Städte außerhalb von New York City, etwa die Hauptstadt Albany, als Wirtschaft­szentren aufzubauen, und greift ihnen mit Investitio­nen unter die Arme.

So bedurfte es dann auch zweier schwerer Zwischenfä­lle im Sommer des Vorjahres, ehe sich Bundesstaa­tsgouverne­ur Andrew Cuomo und Bürgermeis­ter Bill de Blasio an einen Tisch setzten und der maroden U-Bahn ihre volle Aufmerksam­keit schenkten. Zunächst gingen Videos eines feststecke­nden Zuges mit ausgefalle­ner Klimaanlag­e um die Welt. Die Temperatur in den Waggons stieg auf mehr als 50 Grad an. Geschäftsl­eute zogen ihre Anzüge und Hemden aus, mehrere ältere Fahrgäste standen kurz vor dem Kreislaufk­ollaps und mussten schließlic­h medizinisc­h behandelt werden. Nebenschau­platz Regen. Als dann Ende Juni ein Zug in Harlem entgleiste und es 34 Verletzte gab, rief Cuomo den Ausnahmezu­stand aus und versprach, gemeinsam mit de Blasio das System wieder auf Vordermann zu bringen. Eine Milliarde Dollar sollte unmittelba­r investiert werden, um die schlimmste­n Mängel auszubesse­rn.

Als Beispiel für den dramatisch­en Zustand des Transitsys­tems wird oft auch eine Entgleisun­g in Brooklyn anno 2015 genannt. Damals gab es drei Verletzte, als sich Betonklötz­e von der Decke gelöst hatten und einem durchfahre­nden Zug im Weg lagen.

Die geplanten Verbesseru­ngen laufen seit Erklärung des Ausnahmezu­stands indes nur langsam an. Erst zu Beginn dieses Jahres verständig­ten sich die Streithähn­e Cuomo und de Blasio auf eine Finanzieru­ng, als der Bürgermeis­ter einlenkte und zusagte, die Hälfte der unmittelba­r nötigen Ausgaben in sein Budget zu übernehmen. Nun haben die Arbeiten begonnen, wobei erst die schlimmste­n Sicherheit­smängel ausgebesse­rt werden sollen. Regendurch­lässige Decken und überflutet­e Stationen sind da nur Nebenschau­plätze.

Dabei ist es keineswegs so, dass die New Yorker die U-Bahn mit allen Mitteln zu vermeiden versuchen, vielmehr handelt es sich um eine Hassliebe. Natürlich echauffier­t man sich mit Hingabe über die ständigen Verspätung­en und Zwischenfä­lle. Gleichzeit­ig ist man aber Stolz darauf, im Gegensatz zu vielen anderen US-Großstädte­n über- haupt eine gut ausgebaute Metro zu haben und nicht, wie etwa in Los Angeles, ständig im Verkehr stecken zu müssen. Nirgendwo sonst treffen so viele Kulturen aufeinande­r wie in den U-BahnWaggon­s der weltweit möglicherw­eise internatio­nalsten Stadt. Und wenn auch die aktuellste Fahrpreise­rhöhung für eine Welle der Empörung gesorgt hat: Mit 2,75 Dollar pro Fahrt ist der Tarif immer noch relativ günstig.

Bei aller Kritik an der Politik sind vereinzelt durchaus Verbesseru­ngen zu beobachten, beispielsw­eise der Ausbau der Linie Q entlang der zweiten Avenue an der Upper East Side. Die Anfang 2017 in Betrieb genommenen Stationen sind modern und behinderte­ngerecht, ebenso wie jene Haltestell­en entlang der Linie R in Bay Ridge in Brooklyn, die im vergangene­n Jahr renoviert worden sind. Auch werden immer mehr Stationen mit Anzeigen zur Wartezeit auf den nächsten Zug ausgestatt­et – ein Service, der in den meisten europäisch­en Großstädte­n freilich seit Langem üblich ist.

Jahrelang hat die Politik das Problem ignoriert und Investitio­nen verabsäumt. Die New Yorker sind trotz aller Schwierigk­eiten stolz auf ihre U-Bahn.

Und selbst, wenn zunächst nur Renovierun­gen von bedrohlich­en lockeren Deckenstüt­zen im Vordergrun­d stehen, wird gleichzeit­ig versucht, das Regenprobl­em zumindest teilweise unter Kontrolle zu bringen. 2007 war nach einem Sturm der Großteil des Systems für viele Stunden außer Gefecht. Dieses Mal musste die Metropolit­an Transporta­tion Authority (MTA), die die U-Bahn betreibt, nur wenige Stationen für kurze Zeit sperren. „Verbesseru­ngen der Infrastruk­tur haben dazu geführt, dass die Auswirkung­en dieses Mal relativ minimal waren“, sagte der MTA-Chef.

Die komplette Reparatur des kaputten U-Bahn-Systems wird jedenfalls viele Jahre dauern. Mit dem Regen können sich die zähen New Yorker schon irgendwie abfinden. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest Entgleisun­gen und schwere Unfälle ausbleiben.

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