Wolfgang Bauers tolle Tropen
Die Uraufführung von »Der Rüssel« wurde am Freitag im Akademietheater von Christian Stückl heiter bis wolkig inszeniert: Ein munteres Ensemble veredelte dieses Frühwerk.
Nein, die Roaring Sixties des vorigen Jahrhunderts könnte heutzutage selbst der wildeste postdramatische Regisseur nicht mehr zurückholen, zumindest, was den Skandal betrifft. Man stelle sich vor, 1962 wäre ein Stück des 21 Jahre alten, stürmisch drängenden Originalgenies Wolfgang Bauer aufgeführt worden, bei dem im Finale der Protagonist am Kreuz endet. Dort, in roter Arbeitskluft hängend, vollführt er noch ein paar gymnastische Übungen. Der Sturm der Entrüstung jener, die sich moralisch überlegen und zugleich verletzt fühlten, wäre in der Gründerzeit des avantgardistischen Grazer Forum Stadtpark weit über die Landesgrenzen hinweg zu hören gewesen.
Wir befinden uns aber nicht in der Steiermark 17 Jahre nach dem Krieg, sondern in Wien am Akademietheater 2018. Bauer ist seit fast 13 Jahren tot, in einem Nachlass wurde inzwischen „Der Rüssel“gefunden, das vermutlich vor 57 Jahren geschrieben worden war. Die „Tragödie in elf Bildern“hat der bayerische Regisseur Christian Stückl am Freitag mit sicherer Hand fürs Unterhaltende, voll Musikalität und mit munterem Ensemble uraufgeführt. Afrika-Rhythmen. Die Reaktion? Wurde getobt? Fast. Das Publikum zeigte sich von einem magischen Abend offenbar derart begeistert, dass es herzhaft applaudierte – „The Times They Are a-Changin’“. Aus dem Bürgerschreck Bauer ist unser aller Klassiker Wolfi geworden, der sogar mit einem Text entzückt, dem man nicht nur großes Talent, sondern auch Schwächen der Redundanz anmerkt. Stückl hat sie durch kräftige Kürzungen und eine kluge Umstellung von Szenen verdeckt. Er betont das Heitere und umwölkt das Unfertige. Als schönsten dramaturgischen Kunstgriff hat sich der Regisseur einen Chor einfallen lassen. Die Gesangskapelle Hermann entzückt mit Liedgut aus den Alpen und aus Wien, mit schwarzafrikanischen Rhythmen und Songs der Comedian Harmonists (Musik: Tom Wörndl).
Zum Geschehen: Wir befinden uns in den Bergen, im Dorf Rupertihausen. Stefan Hageneier (Bühne und Kostüme) hat eine filigrane Stube gebaut, in die das Gebirge hineingewachsen ist. Die Wände zittern, wenn jemand durchs Fenster einsteigt oder wenn es donnert und blitzt. Das ist häufig der Fall. Gleich zu Beginn kommt Florian Tilo (Sebastian Wendelin) auf diese Art herein, zu seinen schlafenden Brüdern, und stellt sich dem Publikum vor. Er ist der Urenkel von Claudius Tilo, einem frühen Afrikabegeisterten, dessen Porträt illuminiert an der Wand hängt. Dieses Bild wird öfters herunterfallen, wenn die Glocken läuten, und sich schließlich selbst entzünden. Diese Gags signalisieren: Etwas Magisches geht hier vor. Die Brüder sind fanatische Wilderer. Simon Jensen und Christoph Radakovits spielen sie als Clowns. Florian aber ist auf der Suche nach einem Elefanten, dem er vor einer Wildbachhöhle auflauert. Er will das Werk des Urgroßvaters vollenden und die Tropen in die Alpen holen. Das gelingt ihm auch, nachdem er das Riesentier aufgespürt und dieser sich (lebensgroß) im Herrgottswinkel mit seinem Rüssel verfangen hat. Mächtige Veränderungen vollziehen sich. Die Alpen werden zu Afrika. Statt des Gipfelkreuzes wächst eine 200 Meter hohe Palme, Mega-Schnecken, Schlangen und anderes Getier tauchen auf, es wird unheimlich heiß. Dorfklischees. Aber nicht nur Surreales, auch Volksstückhaftes wird geboten. Tilo wirbt um die Kellerbirn Anna (Stefanie Dvorak spielt sie herrlich rustikal), auf die auch sein Großvater Ulpian (Branko Samarovski mit skurrilen Späßen) scharf ist, und heiratet sie, als er nach seinem Fund bereits diktatorische Ansätze zeigt. Die übrigen Figuren sind ebenfalls sehr klischeehaft gezeichnet, etwa Dirk Nocker als aufdringlicher Reporter aus Hamburg. Die Dorfgrößen reagieren recht unterschiedlich auf die völlig neue Situation in dem Dorf, das wegen seines Elefanten rasch berühmt wird. Bürgermeister Trauerstrauch sucht rasch den politischen Vorteil, Kolonialwarenhändler Kuckuck den ökonomischen. Er kleidet die Bevölkerung exotisch und teuer ein. Falk Rockstroh und Peter Matic´ verleihen ihren Rollen neben dem Schwankhaften auch ein wenig Bösartigkeit. Zur Zugnummer macht Markus Meyer seine Rolle als Kaplan Wolkenflug, der zum energischen Gegenspieler des nun machtversessenen, die alte Leitkultur ersetzenden Florian wird und so wie dieser tragisch endet. Verlässlich bringt dieser komplexbeladene Geistliche das Publikum zum Lachen. Am raffiniertesten hat jedoch Barbara Petritsch die Rolle der locker sich anpassenden Großmutter angelegt. Das ist Volksbühne in Perfektion. Gestelzter Ton. Mehr sollte man sich von dieser Bauerschen Laune nicht erwarten. Die Exotismen sind von atemberaubender Naivität, offenbar von der Regie zugefügte Passagen, die etwas Aktualität oder gar politisches Bewusstsein erzeugen sollen, wirken aufgesetzt, wenn nicht sogar befremdend bei dem kraftgenialischen Dichter, der in „Der Rüssel“noch auf der Suche nach seiner ganz eigenen Sprache war und sich vorerst mit dem ironisiert-gestelzten Ton alter Tragödien abfand. Man ahnt jedoch: Da kommt noch was.
Extremer Klimawandel: 200 Meter hohe Palmen und gewaltig große Schnecken.