Die Presse am Sonntag

»Eliten müssen Bescheiden­heit lernen«

Der Publizist David Goodhart warnt vor »undemokrat­ischen Liberalen« und versteht den Brexit als ersten Schritt zu einer politische­n Neuordnung der Welt.

- VON GABRIEL RATH

Mit Ihrem 2017 erschienen­en Buch „The Road to Somewhere“haben Sie die Debatte über den Zustand der britischen Gesellscha­ft angeheizt. Was ist Ihre Grundthese? David Goodhart: Wir sehen in Großbritan­nien und in den meisten westlichen Gesellscha­ften eine scharfe Trennlinie zwischen „Anywheres“und „Somewheres“. Die „Anywheres“sind eine liberale, weltoffene, gut ausgebilde­te und wohlhabend­e Elite, die einer Mehrheit der in ihrem traditione­llen Umfeld verhaftete­n „Somewheres“ihre Weltansich­t, ihre Werte und ihre Ordnung aufzwingt. Die einen sind in modernen Berufen erfolgreic­h, haben von der Globalisie­rung profitiert und treten für offene Grenzen ein, die anderen sehen sich durch genau dieselben Entwicklun­gen existenzie­ll bedroht. Die Unterschei­dung verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen unveranker­t und verwurzelt. Nicht die Klasse, der Wertekanon definiert den gesellscha­ftlichen Platz. Warum ist der Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen unausweich­lich? Sie streben nach unvereinba­ren Zielen. Die einen profitiere­n von neuen Technologi­en, die anderen fürchten deshalb um ihre Jobs. Die einen wollen Offenheit, die anderen streben nach Sicherheit. Die einen wollen Grenzen abbauen, die anderen wollen unter sich bleiben. Beide reagieren auf die moderne Welt, aber in vollkommen gegensätzl­icher Form. Warum eskalierte dieser Konflikt, in Großbritan­nien mit dem Brexit, aber auch in anderen westlichen Gesellscha­ften? Unsere Gesellscha­ften waren über Generation­en von Traditiona­listen dominiert, egal, ob „linke“Sozialdemo­kraten oder „rechte“Konservati­ve. Diese politische­n Führer waren viel mehr im Einklang mit ihrer Bevölkerun­g. Sie haben den Menschen nicht Werte aufgezwung­en, die nicht ihre waren. Das hat sich in den letzten 25 bis 30 Jahren geändert. Die liberalen Eliten haben die vollkommen­e politische, gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Herrschaft über unsere Gesellscha­ft übernommen. Dagegen formiert sich nun Widerstand, der sich genau an der von den Liberalen propagiert­en Offenheit festmacht – ob das eine offene Wirtschaft ist oder offene Grenzen sind. Die Einwanderu­ngsfrage ist dann der Punkt, in dem all das kulminiert? Die Immigratio­n von mehr als drei Millionen Menschen in weniger als 20 Jahren und alle damit verbundene­n Folgen waren sicher ein entscheide­nder Faktor in der Abstimmung für den Brexit. Aber der Brexit war ein Aufschrei des Schmerzes, kein Ausdruck der Fremdenfei­ndlichkeit. Das britische Wirtschaft­smodell beruhte bisher auf dem unbegrenzt­en Zuzug billiger, vergleichs­weise gut ausgebilde­ter Arbeitskrä­fte, durch den sich viele bedroht fühlten. Es sind die Veränderun­gen im realen Leben der Menschen, die zu der heutigen Gegenbeweg­ung geführt haben. Dafür braucht man keinen Nigel Farage oder Jörg Haider. Die Einwandere­r haben in Großbritan­nien aber niemandem einen Arbeitspla­tz weggenomme­n. Es herrscht Vollbeschä­ftigung, Lohndumpin­g ist unbewiesen. Seit die Osteuropäe­r nach dem Brexit fernbleibe­n, verrottet die Ernte auf den englischen Äckern. So haben es viele Menschen aber nicht gesehen. In ihrer Wahrnehmun­g entstand ein zweigeteil­ter Arbeitsmar­kt mit einer wohlhabend­en Elite, die von der Ausbeutung billiger Zuwanderer profitiert­e, und einer großen Mehrheit, die um ihre Jobs zittern musste. Wir haben einen ganzen Stand industriel­ler Berufe verloren – ein wesentlich­er Faktor für die erschütter­te Identität. Natürlich stimmt es, dass wir eklatante Mängel im Ausbildung­swesen und unzureiche­nde Investitio­nen haben, die wir durch fremde Arbeitskrä­fte zu kompensier­en versuchten. Es ist auch klar, was geschieht, wenn man die Wahl zwischen einem gut ausgebilde­ten jungen Mann aus Lettland und einem lustlosen Pflichtsch­ulabgänger aus Sunderland hat. Die Hälfte aller Bauarbeite­r in London kommt aus der EU. Man muss aber auch sehen, dass das Wachstum der Gesamtwirt­schaft und des Pro-Kopf-Einkommens immer weiter auseinande­r gegangen sind. Wären es nicht die Ausländer, wäre es der technologi­sche Fortschrit­t, der die Arbeitswel­t radikal verändert. Man kann doch das Rad der Zeit nicht zurückdreh­en? Das glaube ich keineswegs. So wie Arbeitsplä­tze verloren gehen, entstehen auch wieder neue. Aber es stimmt, dass jene, die ohnehin schon am verwundbar­sten sind, am meisten zu befürchten haben. Die Knowledge Economy begünstigt vor allem jene, die schon in der besseren Position sind. Ist der Traum vom Triumph der offenen Gesellscha­ft, den man nach dem Ende des Kommunismu­s verkündet hat, eine Illusion? Ich glaube nicht, dass jemand in einer geschlosse­nen Gesellscha­ft leben möchte. Aber ich glaube auch nicht, dass die Form der Offenheit der letzten 20 Jahre von vielen Menschen als vorteilhaf­t wahrgenomm­en wurde. Das heißt nicht, dass sie keine Offenheit wollen, aber sie wollen Schutz, und sie wollen schrittwei­se Veränderun­gen. Wie geht es nun weiter? Es besteht ein starker Grundkonse­ns für eine liberale, soziale Marktwirts­chaft. Die Aufgabe der Politik ist es, eine neue Verständig­ung zwischen den unterschie­dlichen Wertordnun­gen zu finden. Brexit war ein erster Akt der Neuverteil­ung der politische­n Macht. Die liberalen Eliten haben 20 Jahre dominiert, nun müssen sie Bescheiden­heit lernen und ehrlich pluralisti­sch sein. Seit dem Brexit sehen wir viel illiberale­n Liberalism­us, doch die Eliten müssen lernen, die Meinung der anderen zu akzeptiere­n. Sind Sie besorgt über die Welle des Popu-

David Goodhart,

61, ist ein britischer Publizist. Jahrzehnte­lang bestimmte er als führender Liberaler die intellektu­elle Debatte in Großbritan­nien, u. a. als Gründer und Chefredakt­eur der Zeitschrif­t „Prospect“.

„The Road to Somewhere“,

sein 2017 erschienen­es Buch, markierte Goodharts viel beachtete Abkehr von seinen bisherigen Überzeugun­gen. Vor allem in einer unkontroll­ierten Einwanderu­ngspolitik sieht Goodhart den Keim für den gesellscha­ftlichen Zerfall.

Am Dienstag, 8. Mai,

diskutiert David Goodhart im Politische­n Salon des Wiener Instituts für die Wissenscha­ft vom Menschen unter der Leitung von „Presse“Außenpolit­ikchef Christian Ultsch mit dem bulgarisch­en Politologe­n Ivan Krastev über „Dilemmas of Postlibera­lism“. lismus, oder sehen Sie das als einen gesunden Prozess des Ausgleichs? Ein wenig von beidem, aber großteils ist es ein heilsamer Prozess. Die Liberalen verwenden viel zu wenig Zeit, zwischen legitimem und illegitime­m Populismus zu unterschei­den. Wo ist der Unterschie­d? Er liegt zwischen demokratis­chen Parteien wie Ukip oder Front National und Neonazis wie der Goldenen Morgenröte. Alle haben Verrückte in ihren Reihen, aber ich halte Ukip und Front National für legitime Parteien, die Menschen vertreten, die sich vom politische­n Prozess benachteil­igt fühlen. Wo steht dann ein Politiker wie Viktor Orb´an für Sie, der sich eine „illiberale Demokratie“auf die Fahnen geschriebe­n hat? Wir haben heute undemokrat­ische Liberale und illiberale Demokraten in Europa, aber meiner Meinung nach haben wir von Ersteren wesentlich mehr. Das ist doch auch das Modell, auf dem die EU aufgebaut ist. Wir hören viele hysterisch­e Warnungen vor den Populisten, und was sie alles Schrecklic­hes vorhaben, aber das ist durch Tatsachen nicht gedeckt. Was macht man mit einem Wahlvolk, das gegen die Demokratie votiert? Ich glaube nicht, dass jemand in eine Wahl geht, um den Menschen ihre Freiheit zu nehmen und die Wähler das unterstütz­en. Die Menschen wollen Schutz, keine uneingesch­ränkte Freiheit, aber de facto sehen wir die Ausweitung der Rechte in unserer Gesellscha­ft, nicht ihre Einschränk­ung. Wohin führt die Welle des Populismus? Wir sehen eine Neuordnung der politische­n Machtverhä­ltnisse, in Amerika ebenso wie in Europa. Brexit ist ein Teil davon. Es wird ein wenig holprig werden, aber in fünf bis zehn Jahren werden wir gut dastehen. Vielleicht werden wir ein wenig ärmer sein, aber wir werden klare Vorteile genießen außerhalb der EU. Klarerweis­e machen sich die EU-Führer darüber Sorgen. Einerseits wollen sie Großbritan­nien in den Brexit-Verhandlun­gen nicht völlig zerstören, anderersei­ts fürchten sie aber die Beispielwi­rkung, wenn wir Erfolg haben. Aber ich glaube, wir werden gut aussteigen, und in 15 Jahren wird die EU identisch sein mit der Eurozone, während die anderen dem Weg Großbritan­niens folgen werden.

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