»Eliten müssen Bescheidenheit lernen«
Der Publizist David Goodhart warnt vor »undemokratischen Liberalen« und versteht den Brexit als ersten Schritt zu einer politischen Neuordnung der Welt.
Mit Ihrem 2017 erschienenen Buch „The Road to Somewhere“haben Sie die Debatte über den Zustand der britischen Gesellschaft angeheizt. Was ist Ihre Grundthese? David Goodhart: Wir sehen in Großbritannien und in den meisten westlichen Gesellschaften eine scharfe Trennlinie zwischen „Anywheres“und „Somewheres“. Die „Anywheres“sind eine liberale, weltoffene, gut ausgebildete und wohlhabende Elite, die einer Mehrheit der in ihrem traditionellen Umfeld verhafteten „Somewheres“ihre Weltansicht, ihre Werte und ihre Ordnung aufzwingt. Die einen sind in modernen Berufen erfolgreich, haben von der Globalisierung profitiert und treten für offene Grenzen ein, die anderen sehen sich durch genau dieselben Entwicklungen existenziell bedroht. Die Unterscheidung verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen unverankert und verwurzelt. Nicht die Klasse, der Wertekanon definiert den gesellschaftlichen Platz. Warum ist der Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen unausweichlich? Sie streben nach unvereinbaren Zielen. Die einen profitieren von neuen Technologien, die anderen fürchten deshalb um ihre Jobs. Die einen wollen Offenheit, die anderen streben nach Sicherheit. Die einen wollen Grenzen abbauen, die anderen wollen unter sich bleiben. Beide reagieren auf die moderne Welt, aber in vollkommen gegensätzlicher Form. Warum eskalierte dieser Konflikt, in Großbritannien mit dem Brexit, aber auch in anderen westlichen Gesellschaften? Unsere Gesellschaften waren über Generationen von Traditionalisten dominiert, egal, ob „linke“Sozialdemokraten oder „rechte“Konservative. Diese politischen Führer waren viel mehr im Einklang mit ihrer Bevölkerung. Sie haben den Menschen nicht Werte aufgezwungen, die nicht ihre waren. Das hat sich in den letzten 25 bis 30 Jahren geändert. Die liberalen Eliten haben die vollkommene politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herrschaft über unsere Gesellschaft übernommen. Dagegen formiert sich nun Widerstand, der sich genau an der von den Liberalen propagierten Offenheit festmacht – ob das eine offene Wirtschaft ist oder offene Grenzen sind. Die Einwanderungsfrage ist dann der Punkt, in dem all das kulminiert? Die Immigration von mehr als drei Millionen Menschen in weniger als 20 Jahren und alle damit verbundenen Folgen waren sicher ein entscheidender Faktor in der Abstimmung für den Brexit. Aber der Brexit war ein Aufschrei des Schmerzes, kein Ausdruck der Fremdenfeindlichkeit. Das britische Wirtschaftsmodell beruhte bisher auf dem unbegrenzten Zuzug billiger, vergleichsweise gut ausgebildeter Arbeitskräfte, durch den sich viele bedroht fühlten. Es sind die Veränderungen im realen Leben der Menschen, die zu der heutigen Gegenbewegung geführt haben. Dafür braucht man keinen Nigel Farage oder Jörg Haider. Die Einwanderer haben in Großbritannien aber niemandem einen Arbeitsplatz weggenommen. Es herrscht Vollbeschäftigung, Lohndumping ist unbewiesen. Seit die Osteuropäer nach dem Brexit fernbleiben, verrottet die Ernte auf den englischen Äckern. So haben es viele Menschen aber nicht gesehen. In ihrer Wahrnehmung entstand ein zweigeteilter Arbeitsmarkt mit einer wohlhabenden Elite, die von der Ausbeutung billiger Zuwanderer profitierte, und einer großen Mehrheit, die um ihre Jobs zittern musste. Wir haben einen ganzen Stand industrieller Berufe verloren – ein wesentlicher Faktor für die erschütterte Identität. Natürlich stimmt es, dass wir eklatante Mängel im Ausbildungswesen und unzureichende Investitionen haben, die wir durch fremde Arbeitskräfte zu kompensieren versuchten. Es ist auch klar, was geschieht, wenn man die Wahl zwischen einem gut ausgebildeten jungen Mann aus Lettland und einem lustlosen Pflichtschulabgänger aus Sunderland hat. Die Hälfte aller Bauarbeiter in London kommt aus der EU. Man muss aber auch sehen, dass das Wachstum der Gesamtwirtschaft und des Pro-Kopf-Einkommens immer weiter auseinander gegangen sind. Wären es nicht die Ausländer, wäre es der technologische Fortschritt, der die Arbeitswelt radikal verändert. Man kann doch das Rad der Zeit nicht zurückdrehen? Das glaube ich keineswegs. So wie Arbeitsplätze verloren gehen, entstehen auch wieder neue. Aber es stimmt, dass jene, die ohnehin schon am verwundbarsten sind, am meisten zu befürchten haben. Die Knowledge Economy begünstigt vor allem jene, die schon in der besseren Position sind. Ist der Traum vom Triumph der offenen Gesellschaft, den man nach dem Ende des Kommunismus verkündet hat, eine Illusion? Ich glaube nicht, dass jemand in einer geschlossenen Gesellschaft leben möchte. Aber ich glaube auch nicht, dass die Form der Offenheit der letzten 20 Jahre von vielen Menschen als vorteilhaft wahrgenommen wurde. Das heißt nicht, dass sie keine Offenheit wollen, aber sie wollen Schutz, und sie wollen schrittweise Veränderungen. Wie geht es nun weiter? Es besteht ein starker Grundkonsens für eine liberale, soziale Marktwirtschaft. Die Aufgabe der Politik ist es, eine neue Verständigung zwischen den unterschiedlichen Wertordnungen zu finden. Brexit war ein erster Akt der Neuverteilung der politischen Macht. Die liberalen Eliten haben 20 Jahre dominiert, nun müssen sie Bescheidenheit lernen und ehrlich pluralistisch sein. Seit dem Brexit sehen wir viel illiberalen Liberalismus, doch die Eliten müssen lernen, die Meinung der anderen zu akzeptieren. Sind Sie besorgt über die Welle des Popu-
David Goodhart,
61, ist ein britischer Publizist. Jahrzehntelang bestimmte er als führender Liberaler die intellektuelle Debatte in Großbritannien, u. a. als Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift „Prospect“.
„The Road to Somewhere“,
sein 2017 erschienenes Buch, markierte Goodharts viel beachtete Abkehr von seinen bisherigen Überzeugungen. Vor allem in einer unkontrollierten Einwanderungspolitik sieht Goodhart den Keim für den gesellschaftlichen Zerfall.
Am Dienstag, 8. Mai,
diskutiert David Goodhart im Politischen Salon des Wiener Instituts für die Wissenschaft vom Menschen unter der Leitung von „Presse“Außenpolitikchef Christian Ultsch mit dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev über „Dilemmas of Postliberalism“. lismus, oder sehen Sie das als einen gesunden Prozess des Ausgleichs? Ein wenig von beidem, aber großteils ist es ein heilsamer Prozess. Die Liberalen verwenden viel zu wenig Zeit, zwischen legitimem und illegitimem Populismus zu unterscheiden. Wo ist der Unterschied? Er liegt zwischen demokratischen Parteien wie Ukip oder Front National und Neonazis wie der Goldenen Morgenröte. Alle haben Verrückte in ihren Reihen, aber ich halte Ukip und Front National für legitime Parteien, die Menschen vertreten, die sich vom politischen Prozess benachteiligt fühlen. Wo steht dann ein Politiker wie Viktor Orb´an für Sie, der sich eine „illiberale Demokratie“auf die Fahnen geschrieben hat? Wir haben heute undemokratische Liberale und illiberale Demokraten in Europa, aber meiner Meinung nach haben wir von Ersteren wesentlich mehr. Das ist doch auch das Modell, auf dem die EU aufgebaut ist. Wir hören viele hysterische Warnungen vor den Populisten, und was sie alles Schreckliches vorhaben, aber das ist durch Tatsachen nicht gedeckt. Was macht man mit einem Wahlvolk, das gegen die Demokratie votiert? Ich glaube nicht, dass jemand in eine Wahl geht, um den Menschen ihre Freiheit zu nehmen und die Wähler das unterstützen. Die Menschen wollen Schutz, keine uneingeschränkte Freiheit, aber de facto sehen wir die Ausweitung der Rechte in unserer Gesellschaft, nicht ihre Einschränkung. Wohin führt die Welle des Populismus? Wir sehen eine Neuordnung der politischen Machtverhältnisse, in Amerika ebenso wie in Europa. Brexit ist ein Teil davon. Es wird ein wenig holprig werden, aber in fünf bis zehn Jahren werden wir gut dastehen. Vielleicht werden wir ein wenig ärmer sein, aber wir werden klare Vorteile genießen außerhalb der EU. Klarerweise machen sich die EU-Führer darüber Sorgen. Einerseits wollen sie Großbritannien in den Brexit-Verhandlungen nicht völlig zerstören, andererseits fürchten sie aber die Beispielwirkung, wenn wir Erfolg haben. Aber ich glaube, wir werden gut aussteigen, und in 15 Jahren wird die EU identisch sein mit der Eurozone, während die anderen dem Weg Großbritanniens folgen werden.