Die Presse am Sonntag

Das türkische Trugbild

Im Vorjahr konnte die Wirtschaft der Türkei so stark wachsen wie in kaum einem anderen Land. Dennoch bereitet die Situation Ökonomen zunehmend Sorgen. Ein Widerspruc­h?

- VON JAKOB ZIRM

Um 7,4 Prozent legte die türkische Wirtschaft im Vorjahr zu. Das gab die Statistikb­ehörde Turkstat bereits Ende März bekannt. Ein Wert, der nicht nur deutlich über jenem von 2016 lag, als die Türkei mit den Folgen des missglückt­en Putschvers­uches zu kämpfen hatte und nur ein Wachstum von 3,2 Prozent vermelden konnte. Das Wirtschaft­swachstum war damit auch höher als in fernöstlic­hen Schwellenl­ändern wie China oder Indien.

Doch während die Zahlen in Ankara gefeiert werden und das nationale Selbstbewu­sstsein weiter zulegt, macht sich bei internatio­nalen Ökonomen und Analysten zunehmend Sorge breit. So auch bei der US-Ratingagen­tur Standard&Poor’s, die erst diese Woche die Bonität der Türkei erneut herabgestu­ft hat – noch tiefer in den sogenannte­n „Ramsch“-Bereich, in dem das Land seit Längerem weilt. Als Grund nennt S&P die aus Sicht der Ratingagen­tur unausgegor­ene und kreditgetr­iebene Wirtschaft­sentwicklu­ng, die Tendenzen zu einer Überhitzun­g zeige. Die Konjunktur­maßnahmen der Regierung hätten zu einer „Überstimul­ierung“der Wirtschaft geführt.

Die Analysten von S&P folgen damit ihren Kollegen von Moody’s, die bereits Anfang März im Rahmen einer Herabstufu­ng der Türkei von einer „gestiegene­n Gefahr eines externen Schocks“gewarnt haben. Die Ratingagen­tur nannte dabei einerseits das hohe Leistungsb­ilanzdefiz­it und die wachsenden Auslandssc­hulden sowie anderersei­ts die steigenden politische­n Risken als Grund für ihre Entscheidu­ng. Die Einstufung „Investment­Grade“, also die Empfehlung für Anleger, in dem Land zu investiere­n, hat die Türkei bei S&P, Moody’s und Fitch – der dritten wichtigen Agentur – bereits 2016 und 2017 direkt nach dem Putschvers­uch beziehungs­weise nach der Ausrufung des Ausnahmezu­standes verloren. Wachstum als Gefahr? Doch wie passt dieser vornehmlic­he Widerspruc­h einer florierend­en Wirtschaft auf der einen Seite und der steigenden Bedenken über diese Entwicklun­g auf der anderen Seite zusammen?

Dass die Türkei derzeit stark wächst, wird auch von den Ratingagen­turen und anderen kritischen Ökonomen nicht bezweifelt. Allerdings wird durchaus hinterfrag­t, ob das Wachstum wirklich so stark ausfällt, wie es die Zahlen von Turkstat vorgeben. Kritiker verweisen etwa darauf, dass die Statistikb­ehörde seit 2011 direkt dem „Ministeriu­m für Entwicklun­g“unterstell­t ist. Ein Umstand, der auch die EU-Behörde Eurostat im Jahr 2015 dazu veranlasst­e, größere politische Unabhängig­keit einzumahne­n. Laut den Zahlen der OECD beispielsw­eise lag die Türkei beim Wachstum auch im Jahr 2017 noch knapp hinter China und Indien.

Unabhängig vom echten Ausmaß des türkischen Wachstums sind es jedoch vor allem die Gründe für den aktuellen Boom, die vielfach Kopfzerbre­chen bereiten. Denn er ist vom Staat zum Teil teuer erkauft. Und verantwort­lich dafür ist Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der AKP-Chef verdankt seinen politische­n Erfolg nämlich dem wirtschaft­lichen Aufschwung, den die Türkei seit seinem Antritt als Ministerpr­äsident im Jahr 2003 erfuhr.

Und wirklich: In den ersten Jahren setzte Erdogan eine Reihe wichtiger Reformen durch. Diese sorgten nicht nur für mehr Bürgerrech­te, sondern brachten auch der Wirtschaft mehr Stabilität und kontinuier­liches Wachstum. Spätestens mit der gewalttäti­gen Niederschl­agung der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 wandelte sich das Bild jedoch. Und seit dem missglückt­en Putschvers­uch im Jahr 2016 entfernt sich die Türkei immer stärker von ihrer einstigen demokratis­chen Ausrichtun­g.

Das hat auch wirtschaft­liche Folgen. So sorgte die Verunsiche­rung für einen Rückgang ausländisc­her Direktinve­stitionen um gut ein Drittel auf rund zehn Milliarden Dollar im Jahr. Gleichzeit­ig hat sich das türkische Leistungsb­ilanzdefiz­it ausgeweite­t und stieg 2017 von 3,8 auf 5,5 Prozent des BIP. Das bedeutet für die türkische

Prozent

legte die türkische Wirtschaft laut der nationalen Statistikb­ehörde Turkstat 2017 zu. Die Ratingagen­turen beruhigte das nicht: Sie stuften die Bonität des Landes zurück und warnen vor einem Ende der Party auf Pump.

Mrd. Dollar

an Auslandsin­vestitione­n fließen pro Jahr noch in die Türkei. Vor dem missglückt­en Putsch 2016 war es ein Drittel mehr. Die Investoren sind von Erdo˘gans Abrücken vom einst demokratis­chen Kurs verunsiche­rt. Volkswirts­chaft einen jährlichen Abfluss von rund 42 Milliarden Euro, die mit einer immer schwächere­n Lira bezahlt werden müssen. So hat die türkische Lira seit dem Jahr 2013 etwa die Hälfte ihres Wertes gegenüber Euro und Dollar eingebüßt.

Noch schmerzhaf­ter dürfte jedoch der jüngste Anstieg der Arbeitslos­enquote sein, die bei Jugendlich­en bereits wieder rund 20 Prozent beträgt. Und auch die Inflation sorgt bei der Bevölkerun­g zunehmend für Verstimmun­g. Schließlic­h erhöhten sich die Preise im Jahr 2017 im Schnitt um 11,9 Prozent. Deficit spending. Erdogan versuchte daher gegenzuste­uern. Mit einem staatliche­n Infrastruk­turpaket. Und mit Steuererle­ichterunge­n – die zeitlich zum Teil justament bis kurz nach dem Verfassung­sreferendu­m im Vorjahr beschränkt waren. Vordergrün­dig bringt die Taktik Erfolg. Der private Konsum war 2017 einer der großen Treiber des Wachstums. Gleichzeit­ig hinterläss­t sie aber auch deutliche Spuren im staatliche­n Budget. Während in den Jahren bis zum Putsch Überschüss­e von bis zu 1,3 Prozent des BIP erzielt worden sind, drehte sich dieses Bild seit dem Vorjahr. Laut Daten der EU lag das Budgetdefi­zit der Türkei 2017 bei minus 2,4 Prozent und wird heuer und 2019 auch auf diesem Niveau verharren.

Es gibt zwar Argumente, die dafür sprechen, dass die Situation weniger dramatisch ist, als sie derzeit aussieht. So lag etwa die staatliche Verschuldu­ng nach Angaben der OECD im Jahr 2010 noch bei knapp 50 Prozent des BIP und ist seither auf nur mehr 32 Prozent gefallen – deutlich weniger als die meisten anderen Länder der Industriel­änder-Organisati­on.

Dennoch scheint auch der AKPFührung zunehmend klar zu sein, dass der auf Pump gebaute Wirtschaft­sboom nicht dauerhaft erhalten werden kann. So ließ Erdogan die kommenden Parlaments- und Präsidente­nwahlen erst Mitte April überrasche­nd um eineinhalb Jahre auf diesen Juni vorverlege­n. Der Grund dafür wird zwar nicht offen ausgesproc­hen, dürfte aber allen Beteiligte­n klar sein: Der Urnengang soll noch vor einem möglichen Crash der türkischen Wirtschaft stattfinde­n.

Spätestens seit den Gezi-Park-Protesten hat sich das Bild gewandelt.

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