Die Pickerlmillionäre
Der Name Panini steht nicht nur für Stickermanie in Fußball-WM-Zeiten: Er erzählt auch die Erfolgsstory von vier Brüdern aus Modena, die im Nachkriegsitalien aus einer guten Idee ein boomendes Geschäft machten.
Es ist noch mehr als einen Monat hin zur Fußball-WM. Doch das eine, das ganz große Fieber ist schon längst ausgebrochen: Im Pausenhof, im Klassenzimmer, am Spielplatz, an den vielen „Börsen“– ja, auch im Büro: Überall wird emsigst getauscht. Pünktlich zur WM-Vorfreude ist das einzigartige Panini-Kribbeln wieder da: dieser Mix aus Ungeduld und Erwartung, wenn man das Packerl aufreißt. Der Triumph, wenn im Album die vollständige Mannschaft pickt. Und natürlich der Zeitdruck: Bis zu WM-Beginn muss das Album vollständig sein.
Der Name Panini steht aber nicht nur für die Stickermanie mit all ihren wunderbaren Symptomen. Panini ist vor allem ein erfolgreiches Unternehmen: Die norditalienische Firma ist heute in 125 Ländern aktiv, hat Niederlassungen in Europa sowie in Nordund Südamerika, beschäftigt mehr als 1000 Mitarbeiter. Pickerln sind ein Megabusiness: Sogar in lauen Zeiten – wenn keine internationalen Meisterschaften stattfinden – beträgt der Umsatz 500 Millionen Euro im Jahr. Während der Europameisterschaften erwirtschaftet das Pickerlbusiness 600 Millionen, in WM-Jahren sogar mehr als 700 Millionen Euro. Eine Made-in-Italy-Erfolgsstory also, die Finanzkrise und globalen Wettbewerb überlebt hat. Ein Kiosk im Zentrum. Dieses typisch italiensche Wirtschaftswundermärchen beginnt im Jänner 1945, im norditalienischen Modena. Das Land liegt in Trümmern, die NS-Besatzer kontrollieren noch den Norden Italiens. Die energische Kriegswitwe Olga steht allein mit acht Kindern da. Jede Lira wird weggelegt und streng von Mama Panini verwaltet. Damals entschließt sich die Familie zu einem gewagten Schritt: Die Panini investieren ihre gesamten Ersparnisse in einen Zeitungskiosk im Stadtzentrum.
Olga verkauft Zeitungen und Zeitschriften, die Kinder helfen ihr. Viel verdient die Familie nicht, das Geld ist immer knapp. Der 19-jährige Giuseppe, der älteste Sohn, hilft aus: Er betreibt mit seinem Bruder eine kleine Autowerkstatt außerhalb Modenas, bis er an einem schweren Lungenleiden erkrankt. Sogar während des langen Krankenhausaufenthalts sprüht der Jungunternehmer vor Ideen: Er startet einen erfolgreichen Süßigkeitenhandel.
Wieder gesund beschließt er, das Familienzeitungsbusiness aufzupeppen: Zunächst sichert er sich die Rechte der „Gazzetta dello Sport“für Modena. Die Geschäfte gehen gut. Den zündenden Einfall hat Giuseppe aber 1960. Damals wurden „Figurine“, Fotos italienischer Fußballer, den Zigarettenpackungen als Werbegeschenk beigelegt. Giovanni kauft die Sammelbilder, steckt jeweils vier in einen Papierumschlag, legt einen Luftballon dazu. Ein Packerl kostete erschwingliche zehn Lire.
Die „fifi“(so der Name in Dialekt) werden zum Verkaufshit: Vor dem Kiosk im Corso Duomo bildeten sich lange Schlangen. Panini-Bilder gehören bald zum obligaten Inhalt jeder respektablen Bubenhosentasche, Fotos von Fußballidolen werden wie Heiligenbilder verehrt. Man sammelt, man tauscht. Das Panini-Fieber breitet sich aus: Erst erfasst es Modena, dann die weitere Emilia-Romagna, schließlich ganz Italien. Pünktlich zur italienischen Meisterschaft 1961/1962 erscheint das erste Album: Auf dem Cover prangt der schwedische AC-Milan-Star Nils Liedholm. Die Kickerbilder, anfangs noch in Schwarz-Weiß, werden sorgsam mit Klebstoff ins Heft gepickt. Begehrtes Pickerl aus 1994: Carlos Valderrama, „El Pibe“, Kolumbianer mit zitronengelber Haarpracht.
Es sind die goldenen Pionierzeiten des Made-in-Italy-Familienkapitalismus. Der Krieg ist zu Ende, trotz bitterer Armut herrscht Optimismus und Aufbruchstimmung: Alles scheint möglich, wenn man jung ist und die richtigen Ideen hat. Kreative Geschwister mit sprühendem Unternehmensgeist, etwa die Benetton oder die Alessi, legen in dieser Zeit den Grundstein für den Erfolg ihrer Unternehmen.
Auch Giuseppe verwandelt mit seinen Brüdern Cosimo, Benito und Umberto seine Idee in eine Industrie: Er kauft der renommierten Agentur Olympia Fußballerfotos ab, lässt sie verkleinern und jeweils 90 „Figurine“auf großformatigem Papier abdrucken. Die „Figu“werden ausgeschnitten, in einem Butterfass gemischt und schließ- lich an Mitarbeiter verteilt, die sie bei sich zuhause in Umschlägen sortieren. Das Geschäft boomt, der Kiosk wird zu klein. 1965 zieht die Firma in die Industrieperipherie Modenas. Giuseppe, der „Presidente“, baut aus: Er kauft einen Drucker, eröffnet eine grafische Abteilung. Bruder Umberto erfindet eine Verpackungsmaschine, die „Fifimatic“. Die ersten farbigen, selbstklebenden Pickerln erscheinen.
In den 1970er-Jahren wagen die Brüder erste Schritte jenseits der italienischen Grenze: Sie eröffnen Filialen in Belgien und der Schweiz, Ländern mit vielen italienischen Gastarbeitern. Von hier aus erfasst die Stickermanie Europa: Panini-Niederlassungen gibt es bald auch in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, es werden Alben
Mit dem Ende des Familienbetriebs kommen die schwierigen Zeiten: Ein geplanter Börsengang platzt, 1988 verkaufen die Brüder ihre Firma an die britische Verlagsgruppe Maxwell. Der Sitz bleibt zwar in Modena, doch die neuen Besitzer schicken ihre eigenen Führungskräfte nach Norditalien. Die Chefs sprechen nur Englisch, man versteht sich nicht – nicht nur sprachlich. Wüste Legenden kursieren über den damaligen Geschäftsführer Keith Bales: Der Australier plant ein Kamasutra-Stickeralbum, mit Pickerln in Neonfarben. Er feuert Kritiker, ist cholerisch. Die Firma stürzt in eine tiefe Krise, wechselt mehrmals Besitzer, landet schließlich beim US-Unternehmen Marvel Entertainment Group, das es saniert und wieder auf die Beine bringt.
Seit 1999 ist Panini S.p.A wieder in italienischen Händen: Verwaltet wird es vom Unternehmer Aldo Hugo Sallustro, er besitzt einen Minderheitsanteil. Und pünktlich vor der WM brodelt es wieder in der Gerüchteküche: Offenbar gibt es kaufinteressierte ausländische Investoren. Ähnliche Spekulationen gab es aber schon vor vier Jahren. Mamastatue. 2013 stirbt mit Umberto der letzte Panini-Bruder, aus der Firma hatte sich die Familie schon Jahrzehnte zuvor zurückgezogen. Die Grundphilosophie der Brüder überlebt aber, sogar im digitalen Zeitalter: Trotz Internets und Smartphones wird gesammelt und getauscht, emsig wie damals im Nachkriegsitalien. Auf die zwischenmenschliche Komponente seiner Erfindung war Giuseppe Panini besonders stolz.
Für Nostalgiker lohnt sich ein Spaziergang durch Modena. Es gibt dort ein Panini-Museum, der Zeitungskiosk steht noch, der Firmensitz ist weiterhin in der Via Emilio Po. Im Park gegenüber steht eine Statue. Sie ist – nach gut italienischer Tradition – der wichtigsten Person des Clans gewidmet: Olga, der energischen Panini-Mama.
Es waren die goldenen Pionierzeiten des Made-in-Italy-Kapitalismus.