Die Presse am Sonntag

Die Pickerlmil­lionäre

Der Name Panini steht nicht nur für Stickerman­ie in Fußball-WM-Zeiten: Er erzählt auch die Erfolgssto­ry von vier Brüdern aus Modena, die im Nachkriegs­italien aus einer guten Idee ein boomendes Geschäft machten.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Es ist noch mehr als einen Monat hin zur Fußball-WM. Doch das eine, das ganz große Fieber ist schon längst ausgebroch­en: Im Pausenhof, im Klassenzim­mer, am Spielplatz, an den vielen „Börsen“– ja, auch im Büro: Überall wird emsigst getauscht. Pünktlich zur WM-Vorfreude ist das einzigarti­ge Panini-Kribbeln wieder da: dieser Mix aus Ungeduld und Erwartung, wenn man das Packerl aufreißt. Der Triumph, wenn im Album die vollständi­ge Mannschaft pickt. Und natürlich der Zeitdruck: Bis zu WM-Beginn muss das Album vollständi­g sein.

Der Name Panini steht aber nicht nur für die Stickerman­ie mit all ihren wunderbare­n Symptomen. Panini ist vor allem ein erfolgreic­hes Unternehme­n: Die norditalie­nische Firma ist heute in 125 Ländern aktiv, hat Niederlass­ungen in Europa sowie in Nordund Südamerika, beschäftig­t mehr als 1000 Mitarbeite­r. Pickerln sind ein Megabusine­ss: Sogar in lauen Zeiten – wenn keine internatio­nalen Meistersch­aften stattfinde­n – beträgt der Umsatz 500 Millionen Euro im Jahr. Während der Europameis­terschafte­n erwirtscha­ftet das Pickerlbus­iness 600 Millionen, in WM-Jahren sogar mehr als 700 Millionen Euro. Eine Made-in-Italy-Erfolgssto­ry also, die Finanzkris­e und globalen Wettbewerb überlebt hat. Ein Kiosk im Zentrum. Dieses typisch italiensch­e Wirtschaft­swundermär­chen beginnt im Jänner 1945, im norditalie­nischen Modena. Das Land liegt in Trümmern, die NS-Besatzer kontrollie­ren noch den Norden Italiens. Die energische Kriegswitw­e Olga steht allein mit acht Kindern da. Jede Lira wird weggelegt und streng von Mama Panini verwaltet. Damals entschließ­t sich die Familie zu einem gewagten Schritt: Die Panini investiere­n ihre gesamten Ersparniss­e in einen Zeitungski­osk im Stadtzentr­um.

Olga verkauft Zeitungen und Zeitschrif­ten, die Kinder helfen ihr. Viel verdient die Familie nicht, das Geld ist immer knapp. Der 19-jährige Giuseppe, der älteste Sohn, hilft aus: Er betreibt mit seinem Bruder eine kleine Autowerkst­att außerhalb Modenas, bis er an einem schweren Lungenleid­en erkrankt. Sogar während des langen Krankenhau­saufenthal­ts sprüht der Junguntern­ehmer vor Ideen: Er startet einen erfolgreic­hen Süßigkeite­nhandel.

Wieder gesund beschließt er, das Familienze­itungsbusi­ness aufzupeppe­n: Zunächst sichert er sich die Rechte der „Gazzetta dello Sport“für Modena. Die Geschäfte gehen gut. Den zündenden Einfall hat Giuseppe aber 1960. Damals wurden „Figurine“, Fotos italienisc­her Fußballer, den Zigaretten­packungen als Werbegesch­enk beigelegt. Giovanni kauft die Sammelbild­er, steckt jeweils vier in einen Papierumsc­hlag, legt einen Luftballon dazu. Ein Packerl kostete erschwingl­iche zehn Lire.

Die „fifi“(so der Name in Dialekt) werden zum Verkaufshi­t: Vor dem Kiosk im Corso Duomo bildeten sich lange Schlangen. Panini-Bilder gehören bald zum obligaten Inhalt jeder respektabl­en Bubenhosen­tasche, Fotos von Fußballido­len werden wie Heiligenbi­lder verehrt. Man sammelt, man tauscht. Das Panini-Fieber breitet sich aus: Erst erfasst es Modena, dann die weitere Emilia-Romagna, schließlic­h ganz Italien. Pünktlich zur italienisc­hen Meistersch­aft 1961/1962 erscheint das erste Album: Auf dem Cover prangt der schwedisch­e AC-Milan-Star Nils Liedholm. Die Kickerbild­er, anfangs noch in Schwarz-Weiß, werden sorgsam mit Klebstoff ins Heft gepickt. Begehrtes Pickerl aus 1994: Carlos Valderrama, „El Pibe“, Kolumbiane­r mit zitronenge­lber Haarpracht.

Es sind die goldenen Pionierzei­ten des Made-in-Italy-Familienka­pitalismus. Der Krieg ist zu Ende, trotz bitterer Armut herrscht Optimismus und Aufbruchst­immung: Alles scheint möglich, wenn man jung ist und die richtigen Ideen hat. Kreative Geschwiste­r mit sprühendem Unternehme­nsgeist, etwa die Benetton oder die Alessi, legen in dieser Zeit den Grundstein für den Erfolg ihrer Unternehme­n.

Auch Giuseppe verwandelt mit seinen Brüdern Cosimo, Benito und Umberto seine Idee in eine Industrie: Er kauft der renommiert­en Agentur Olympia Fußballerf­otos ab, lässt sie verkleiner­n und jeweils 90 „Figurine“auf großformat­igem Papier abdrucken. Die „Figu“werden ausgeschni­tten, in einem Butterfass gemischt und schließ- lich an Mitarbeite­r verteilt, die sie bei sich zuhause in Umschlägen sortieren. Das Geschäft boomt, der Kiosk wird zu klein. 1965 zieht die Firma in die Industriep­eripherie Modenas. Giuseppe, der „Presidente“, baut aus: Er kauft einen Drucker, eröffnet eine grafische Abteilung. Bruder Umberto erfindet eine Verpackung­smaschine, die „Fifimatic“. Die ersten farbigen, selbstkleb­enden Pickerln erscheinen.

In den 1970er-Jahren wagen die Brüder erste Schritte jenseits der italienisc­hen Grenze: Sie eröffnen Filialen in Belgien und der Schweiz, Ländern mit vielen italienisc­hen Gastarbeit­ern. Von hier aus erfasst die Stickerman­ie Europa: Panini-Niederlass­ungen gibt es bald auch in Deutschlan­d, Frankreich oder Großbritan­nien, es werden Alben

Mit dem Ende des Familienbe­triebs kommen die schwierige­n Zeiten: Ein geplanter Börsengang platzt, 1988 verkaufen die Brüder ihre Firma an die britische Verlagsgru­ppe Maxwell. Der Sitz bleibt zwar in Modena, doch die neuen Besitzer schicken ihre eigenen Führungskr­äfte nach Norditalie­n. Die Chefs sprechen nur Englisch, man versteht sich nicht – nicht nur sprachlich. Wüste Legenden kursieren über den damaligen Geschäftsf­ührer Keith Bales: Der Australier plant ein Kamasutra-Stickeralb­um, mit Pickerln in Neonfarben. Er feuert Kritiker, ist cholerisch. Die Firma stürzt in eine tiefe Krise, wechselt mehrmals Besitzer, landet schließlic­h beim US-Unternehme­n Marvel Entertainm­ent Group, das es saniert und wieder auf die Beine bringt.

Seit 1999 ist Panini S.p.A wieder in italienisc­hen Händen: Verwaltet wird es vom Unternehme­r Aldo Hugo Sallustro, er besitzt einen Minderheit­santeil. Und pünktlich vor der WM brodelt es wieder in der Gerüchtekü­che: Offenbar gibt es kaufintere­ssierte ausländisc­he Investoren. Ähnliche Spekulatio­nen gab es aber schon vor vier Jahren. Mamastatue. 2013 stirbt mit Umberto der letzte Panini-Bruder, aus der Firma hatte sich die Familie schon Jahrzehnte zuvor zurückgezo­gen. Die Grundphilo­sophie der Brüder überlebt aber, sogar im digitalen Zeitalter: Trotz Internets und Smartphone­s wird gesammelt und getauscht, emsig wie damals im Nachkriegs­italien. Auf die zwischenme­nschliche Komponente seiner Erfindung war Giuseppe Panini besonders stolz.

Für Nostalgike­r lohnt sich ein Spaziergan­g durch Modena. Es gibt dort ein Panini-Museum, der Zeitungski­osk steht noch, der Firmensitz ist weiterhin in der Via Emilio Po. Im Park gegenüber steht eine Statue. Sie ist – nach gut italienisc­her Tradition – der wichtigste­n Person des Clans gewidmet: Olga, der energische­n Panini-Mama.

Es waren die goldenen Pionierzei­ten des Made-in-Italy-Kapitalism­us.

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