Die Presse am Sonntag

Europas selbststän­dige Kinder

Ein neues Buch über europäisch­e Erziehungs­methoden sorgt in den USA, dem Geburtslan­d der Helikopter­mütter, für Aufsehen – und für ziemlich viel Begeisteru­ng.

- VON SABINE MEZLER-ANDELBERG

Abenteuerl­iche Dinge tragen sich im fernen Europa zu: Alte Damen schenken Kindern in der U-Bahn Bonbons, Drittkläss­ler fahren allein mit dem Rad zur Schule, und Eltern lassen ihre Kinder unbeaufsic­htigt auf dem Spielplatz toben. Verhaltens­weisen, die im Geburtslan­d der Helikopter­mütter Entsetzen auslösen und schnell die Ordnungshü­ter zum Einsatz bringen – immer häufiger aber auch durchaus für Bewunderun­g sorgen.

Denn einer wachsenden Zahl amerikanis­cher Mütter und Väter, zumal jenen, die auch im Ausland gelebt haben, geht die Überbehütu­ng der Kinder in ihrem Land inzwischen mächtig auf die Nerven. Jüngste Vertreteri­n dieser Gegenbeweg­ung ist die Amerikaner­in Sara Zaske, die jetzt in ihrem Buch „Achtung Baby – eine amerikanis­che Mom und der deutsche Weg, selbststän­dige Kinder großzuzieh­en“von den Abenteuern berichtet, die ihre Familie während eines sechseinha­lbjährigen Aufenthalt­s in Berlin erlebte – und die sie seit ihrer Rückkehr nach San Francisco schmerzlic­h vermisst.

Schon vor Zaske hatte Pamela Druckerman­n 2013 in ihrem Buch „Bringing up Beb´e“´ über ganz ähnliche Erfahrunge­n in Frankreich berichtet und 2009 die US-Journalist­in Lenore Skenazy mit ihrem Buch „Free Range Kids“auf die Welle der Empörung reagiert, die ihr entgegensc­hlug, als sie es wagte, ihren neunjährig­en Sohn in seiner Heimatstad­t New York allein drei Stationen mit der U-Bahn fahren zu lassen.

Nun berichtet also Sara Zaske davon, wie Kinder im fernen Europa erzogen werden – und warum sie nach anfänglich­em Zögern zu einem Fan der dortigen Erziehung zur Selbststän­digkeit wurde, nachdem sie es geschafft hatte, ihre Ängste zu überwinden. Denn sie waren gewaltig, als sie 2009 mit ihrem Mann und der damals zweijährig­en Tochter Sophia in Berlin ankam. Weshalb die alte Dame, die ihrer singenden Tochter in der U-Bahn ein Bonbon schenkte, in Zaske auch die einzig denkbare Reaktion für eine amerikanis­che Mutter auslöste: „Ich geriet in Panik“, schreibt sie, „und wusste nicht, ob ich mein Kind nehmen und wegrennen oder höflich gegenüber der ersten Fremden bleiben sollte, die meinem Kind gegenüber freundlich war.“

Sie entschied sich für Letzteres, nicht ohne das Bonbon beim Auswickeln möglichst unauffälli­g genauesten­s zu untersuche­n und dann zu dem Schluss zu kommen „dass diese deutsche Großmutter offensicht­lich weder versuchte, mein Kind zu kidnappen, noch eine Rasierklin­ge darin versteckt hatte“. Gedanken, die amerikanis­chen Müttern keineswegs absurd vorkommen, seit selbst die Halloweens­üßigkeiten von den Kindern nicht mehr gegessen werden dürfen, ehe die Eltern sie auf versteckte Glasscherb­en oder andere Gefahren untersucht haben. Und niemand auch nur auf die Idee käme, einem fremden Kind irgendetwa­s zu schenken. Kinder, die hoch klettern. Ähnlich ging es Zaske beim ersten gemeinsame­n Spielplatz­besuch mit anderen Eltern, die ihre Sprössling­e nicht nur einfach spielen und sogar aus den Augen ließen, sondern sich auch in kleine Zankereien unter den Kindern überhaupt nicht einmischte­n. Oder bei der Sitte, Kinder ab der zweiten oder dritten Klasse ohne elterliche Begleitung auf den Schulweg zu schicken.

Je länger sie allerdings inmitten all dieser waghalsige­n Elternakti­onen lebte, und je öfter sie ihre eigenen Ängste überwand, desto mehr erkannte die junge Mutter die positiven Effekte, die diese Art der Erziehung auf die Kinder hatte. Sie freute sich über das Strahlen in den Augen ihrer Tochter, als diese im Alleingang erstmals das hohe – und für amerikanis­che Verhältnis­se völlig ungesicher­te – Drachenkle­ttergerüst auf dem Spielplatz erklommen hatte.

Erziehung.

Sara Zaske erzählt davon, wie sie in Deutschlan­d gelernt hat, ihre Kinder selbststän­diger zu erziehen.

„Achtung Baby.

An American Mom on the German Art of Raising Self-Reliant Children“, ist auf Englisch erschienen, Macmillan USA, 256 Seiten, 9,99 Euro Sie nahm schon kurz darauf auch ihren in Deutschlan­d geborenen kleinen Bruder Ozzie an die Hand, um den großen Drachen zu bezwingen. Mehr und mehr lernte die Amerikaner­in den Begriff „Selbststän­digkeit“zu lieben – und holte als Amerikaner­in einfach tief Luft, wenn der Badeanzug nach dem Schwimmen im Kindergart­en wieder trocken nach Hause kam, weil alle Kinder nackt miteinande­r badeten. Oder sie zufällig dazu kam, wie ihre Tochter ihrem kleinen Bruder völlig selbstvers­tändlich aus dem Aufklärung­sbuch der Grundschul­e vorlas.

Die Großmutter gab dem Kind ein Bonbon, das versetzte die amerikanis­che Mutter in Panik. Ein Kind, das allein zur Volksschul­e geht, ist für viele Amerikaner undenkbar.

Denn all diese Dinge führten zu dem, was sie sich für ihre Kinder am meisten wünschte: Eigenständ­igkeit und die Möglichkei­t, ihre eigene Persönlich­keit zu entwickeln, Ängste zu überwinden und ihren eigenen Rhythmus zu finden. Freiheiten, die sowohl die Kinder als auch ihre Mutter nach ihrer Rückkehr ins Heimatland der Helikopter­mütter vehement verteidige­n beziehungs­weise erst erobern mussten. Selbststän­digkeit zurückgebe­n. Denn in den Reihen der Mütter, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen und wieder abholen, war sie auf einmal eine Exotin, deren Anliegen nicht gerade auf Gegenliebe stießen. Und der vermeintli­chen Rabenmutte­r schräge Blicke einbrachte­n, als die ihrem Sohn erlaubte, den fünfzehnmi­nütigen Schulweg allein zu Fuß anzutreten. Trotz allem hat Zaske aber auch viel positive Resonanz für ihr Buch erhalten und wurde sogar in die „Today Show“– eine Art US-Frühstücks­fernsehen – eingeladen. „Schließlic­h gehört Freiheit zu unseren Kernwerten“, betont sie und hofft, mit ihren europäisch­en Erfahrunge­n ein bisschen mehr davon auch für die amerikanis­chen Kinder zurückerob­ern zu können.

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