»Europarecht von manchen falsch interp
Vor einem Jahr verließ Reinhold Mitterlehner im Zorn die ÖVP, Sebastian Kurz übernahm. Im Interview spricht dieser über das Verhältnis zu seinem Vorgänger, seine Pläne für Partei und EU-Ratspräsidentschaft – und warum er sich keinen Spitznamen mit Wolfgan
Als Reinhold Mitterlehner vor einem Jahr zurückgetreten ist, war das für Sie tatsächlich überraschend, oder? Sebastian Kurz: Der Zeitpunkt des Rücktritts war für mich damals definitiv überraschend. Das hat bei mir einige Tage ausgelöst, die von mir einerseits Mut abverlangt haben – und die andererseits auch wichtige Tage der Entscheidung waren. Reinhold Mitterlehner ist im Zorn auf Sie und Ihr Team gegangen. Wie ist das Verhältnis heute? Es ist ja bekannt, dass wir in einigen inhaltlichen Fragen nicht immer einer Meinung waren. Aber wir haben damals wie heute einen ordentlichen Kontakt gehabt. Heute sehen und treffen wir uns auch immer wieder. Hätte man retrospektiv anders miteinander umgehen sollen? Was sagt die Familienaufstellung? Von mir gibt es überhaupt keine negativen Emotionen in seine Richtung – sondern ganz im Gegenteil. Dass das Amt jeder ganz anders lebt und interpretiert, unterschiedliche Schwerpunkte und Zugänge hat, das ist ja nichts Ungewöhnliches und auch in dem Fall so. Wie geht es der Partei nach einem Jahr? Ist der Umbau abgeschlossen? Wir haben vor einem Jahr eine massive Veränderung in der Partei durchgesetzt. Nicht nur im Statut, sondern vor allem durch die Öffnung zu einer breiten Bewegung. Es sind unzählige Menschen dazugekommen, die diese Bewegung unterstützen, vor allem Menschen, die sich früher nicht politisch engagiert haben. Wir konnten auch für das Parlament viele tolle, neue Personen gewinnen. Von Efgani Dönmez über Rudolf Taschner bis hin zu Martin Engelberg. Es gibt keine Widerstände in der Partei? Dass es gut läuft, ist nichts, das Selbstzufriedenheit auslöst, sondern ein Ansporn, alles das umzusetzen, was wir uns vorgenommen haben. Josef Pröll stand für einen liberaleren Kurs, Michael Spindelegger kam aus einer traditionelleren Ecke der ÖVP und forcierte ebenso wie Mitterlehner das Wirtschaftsthema. Man erwartet von Ihnen, die Partei wieder ideologischer zu machen. Ja, ich habe sehr klare Wertehaltungen, unsere Ausrichtung ist eine liberale und christlich-soziale zugleich. Wir haben eine starke, bürgerliche Kraft der Mitte geschaffen, die den Anspruch hat, unser Land zu verändern. Wir haben in den ersten hundert Tagen diesen Kurswechsel eingeleitet: Budgetdisziplin statt neuer Schulden, Steuersenkungen statt höherer Steuern und eine restriktivere Migrationspolitik statt Kontrollverlustes des Staates. Das ist ein Kurswechsel, der nötig war. Darüber hinaus leben wir einen neuen Stil des Miteinanders, wir verschwen- den keine Zeit darauf, andere anzupatzen oder schlecht zu machen, sondern konzentrieren uns auf die Arbeit. Wissen Sie, dass Sie sich mit Ihrem Vorgänger Wolfgang Schüssel den Spitznamen „Schweigekanzler“teilen? Ja, auf der einen Seite gibt es die, die sagen, ich kommuniziere zu wenig. Mindestens genausoviele werfen mir vor, medial zu präsent zu sein. Sie sehen, ich bin mit widersprechenden Vorwürfen konfrontiert. Für mich ist das Entscheidende in der Politik aber nicht, wie viel man kommuniziert, sondern was man tut. Ich werde darum sicher nicht als jener Kanzler in die Geschichte eingehen, der am schnellsten und ausführlichsten jede Emotion der Tagespolitik kommentiert. Ich will jeden Tag hart daran arbeiten, dass wir umsetzen, was wir uns vorgenommen haben. Da gibt es wirklich viel zu tun. Es geht wohl weniger um mediale Präsenz als darum, dass offenbar manchmal Statements zu heiklen Themen vermisst wurden. Was sagen Sie etwa zu Köhlmeiers Rede am Gedenktag? Das habe ich bereits klar und deutlich formuliert, für mich ist das damit erklärt. Ich finde es richtig, vorhandenen, aber auch neu importierten Antisemitismus anzuprangern. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, Bemühungen aller, die gegen Antisemitismus auch in den eigenen Parteien ankämpfen, anzuerkennen. Es braucht also sowohl das Anprangern als auch das Anerkennen, sonst ist das einseitig. Ich halte es aber für absolut inakzeptabel, die Schließung der Westbalkanroute mit den Gräuel des Nationalsozialismus in einen Vergleich zu ziehen. Denn wenn jemand sagt, schon damals gab es Menschen, die sich mit der Schließung von Fluchtrouten rühmten, dann werden ja wohl Nazis oder Kollaborateure gemeint sein. Oder die Schweiz. Wer in Griechenland gestoppt wird und nicht nach Mazedonien weiterreisen darf, wird dadurch ja wohl nicht in den sicheren Tod geschickt. Die Westbalkanroutenschließung widerspricht weder der Genfer Konvention noch dem Europarecht. Ganz im Gegenteil, die Westbalkanroutenschließung hat den europarechtlich gewünschten Zustand wieder hergestellt. Nämlich, dass sich Asylwerber das europäische Land nicht aussuchen können, in dem sie Zuflucht finden, sondern einen Asylantrag in jenem Land stellen müssen, das sie als Erstes betreten. Das wurde auch eine Woche nach der erfolgreichen Schließung von allen Staats- und Regierungschefs der Union in einer Aussendung gutgeheißen. Apropos Genfer Flüchtlingskonvention: Ihr Koalitionspartner FPÖ übt daran immer wieder Kritik. Passt diese für Sie so noch? Prinzipiell stellt sich die Frage, wie gewisse Rechtsvorschriften interpretiert werden. Ich habe schon den Eindruck, dass in der ganzen Migrationsdebatte Europarecht, aber auch internationale Regelungen von manchen falsch interpretiert wurden. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass Deutschland, Österreich und Schweden die einzigen Länder sind, in denen Flüchtlinge sicher leben können. Und es kann auch nicht sein, dass jeder, der anderswo auf der Welt gefährdet ist, das Recht hat, in Österreich einen Asylantrag zu stellen. Das heißt genau was? Ich bin der Meinung, dass wir Menschen, die außerhalb Europas Schutz brauchen, unterstützen sollten. Wir sollten sie vor Ort in sicheren Schutzzentren versorgen. Und ja, ich bin dagegen, dass jeder, der außerhalb Europas in Not ist, mit einem Schlepper zu uns kommen sollen darf. Den gesetzlichen Interpretationsspielraum sucht man momentan wohl auch bei der neuen Mindestsicherung. Wurde schon eine verfassungskonforme Lösung gefunden? Das Ziel ist klar: Es soll wieder eine bundesweite Regelung geben. Neuzuwanderer sollen nicht genau so viel Unterstützung bekommen wie jene, die ihr Leben lang gearbeitet und in das System einbezahlt haben. Wir empfinden das heutige System als unfair. Das Konzept wird gerade erarbeitet und wird vor dem Sommer präsentiert. Selbstverständlich werden wir eine verfassungskonforme Regelung vorlegen. Wozu Sie sich auch eher wortkarg geäußert haben, ist der Sager von FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus zu George Soros. Fällt das für Sie auch unter Antisemitismus? Ich habe mich selbstverständlich schon geäußert und auch Kritik geübt. Aber noch einmal konkret: Wenn in dieser Art und Weise Kritik geübt wird, dann halte ich das für nicht richtig. Sachliche Kritik – auch an George Soros – muss natürlich möglich sein, sie darf aber niemals antisemitische Ressentiments schüren. Die EU-Ratspräsidentschaft steht an. Die ÖVP gibt sich gern betont proeuropäisch, die FPÖ sitzt in Brüssel in einer Fraktion, die die EU über weite Strecken auch ablehnt. Haben Sie Angst, dass Sie Ihr Koalitionspartner blamieren wird? Zum Ersten fände ich es ungewöhnlich, wenn FPÖ und ÖVP in denselben Fraktionen in Brüssel wären. Wir sind unterschiedliche Parteien, und darum ist es naheliegend, dass wir auch unterschiedlichen Fraktionen in Brüssel angehören. Wir haben in sehr vielen Fragen unterschiedliche Ansichten, haben uns aber auf ein Regierungsprogramm geeinigt, das wir gemeinsam abarbeiten. Und dieses Regierungsprogramm ist ein ganz klar proeuropäisches. Bei meinen vielen Gesprächen mit Staatsund Regierungschefs hatte ich den Eindruck, dass das auch so wahrgenommen wird. Für die Ratspräsidentschaft haben wir uns ein ambitioniertes Programm vorgenommen und werden uns bemühen, der europäischen Union während dieser Zeit zu dienen. Also keine Bedenken, dass die FPÖ lautstark gegen die EU protestiert? Ich habe bei allen Ministern in der Bundesregierung das Gefühl, dass Sie sich professionell auf die Ratspräsidentschaft vorbereiten. Außerdem haben Politiker jeden Tag die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden und ihre Meinungen kundzutun. Das wird auch während des Ratsvorsitzes so sein – dessen Aufgaben klar definiert sind: nämlich Brücken zu schlagen und Staaten zusammenzubringen. Ein Thema wird auch das EU-Budget sein – das wird sich wohl eher nicht während der EU-Ratspräsidentschaft lösen lassen? Davon ist auszugehen. Am Ende wird das Budget ein Kompromiss aus den verschiedenen Standpunkten sein. Ich vertrete gemeinsam mit Staaten wie Dänemark, den Niederlanden die Interessen der Nettozahler. Das heißt, wir wollen nicht, dass der Mehrbedarf,