Der süße Teufel
Zucker steht am Pranger. Jetzt sorgen sich nicht nur Ärzte, sondern auch Supermärkte um unsere Ernährung. Die Industrie schreit auf: Zucker ist nicht böse – und der Kunde mündig.
Du bist Zucker, ruft einem das Plakat zu. Und setzt nach: „Wie viel Zucker brauchst du noch?“Was nach einem verunglückten Flirt klingt, ist die neue Werbung, mit der der Handelsriese Rewe das Reizthema anfasst. „Es ist der nettere Zugang als zu sagen, Zucker ist böse und schlecht und bringt dich irgendwann um“, erklärt ein Sprecher die Kampagne, die groß bei Billa, Adeg und Merkur läuft. Und weil es bei der deutschen Mutter so gut funktioniert hat, lässt man zurzeit auch die Österreicher – gegen Entgelt – Schokoladepudding mit 20, 30 und 40 Prozent weniger Zuckergehalt verkosten und abstimmen.
„Bewusstseinsbildung“, nennt das Tanja Dietrich-Hübner, die bei Rewe die Stabstelle für Nachhaltigkeit leitet. Modethemen wie Regionalität und Bio, aber auch Aufreger wie Palmöl, Zucker und Fett landen bei ihr. „In der schnelllebigen Zeit verliert man so leicht den Überblick, was man zu sich nimmt“, sagt sie. Ihre Kette wolle zur Aufklärung beitragen. „Aber jeder hat die Wahl.“Die Betonung ist ihr wichtig. Rübenbauern in der Klemme. „Die, die auf gesunde Ernährung achten, werden zum Glück immer mehr“, sagt Nicole Berkmann vom Rivalen Spar. „Das Problem sind die, die nicht so darauf achten und viel Weizenmehl und Zucker konsumieren. Die wollen wir sukzessive an weniger Zucker gewöhnen.“Ihr Unternehmen hat dem Nahrungsmittel 2017 wörtlich den „Kampf“angesagt.
Die Vorwürfe gegen ihre Einnahmequelle kennen Lebensmittelhersteller und Zuckerrübenbauern zur Genüge. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht längst von einer Fettleibigkeitsepidemie in Europa – und gibt dem Zucker Mitschuld. Mexiko, Frankreich und Großbritannien besteuern auf Vorschlag von WHO und EU süße Softdrinks. Auch Nestle´ und Coca-Cola haben sich Nachfrage und wissenschaftlichen Erkenntnissen gebeugt und stellen Light-Versionen ins Regal.
„Es wird kein Rübenbauer sagen, dass es sinnvoll ist, übermäßig viel Zucker zu konsumieren“, sagt Markus Schöberl, der 6000 von ihnen in Österreich vertritt. „Aber das, was der Handel hier macht, ist reine Bevormundung. Der Konsument und nicht irgendein anderer – am Ende noch die EU – bestimmt die Rezeptur.“
Auf die EU sind die Rübenbauern gar nicht gut zu sprechen. Mit dem Wegfall der Zuckerquote im Herbst explodierte das Angebot. Der Zuckerpreis stürzte ab. Und weil nicht nur die EU zu viel produzierte, brach gleichzeitig der Weltmarkt zusammen. Die Überproduktion nennt Schöberl „eine der fatalsten Entscheidungen der Branche“.
Aber die EU verhalte sich wenig hilfreich. Sie lasse zollfreien Billigzucker aus Entwicklungsländern weiter auf den Markt rieseln und verbiete ihnen als Draufgabe noch das Pestizid Neonicotinoid. Das bringe viele Rübenbauern, die durch den Preisverfall bereits defizitär wirtschaften, an die Grenzen. Vor dem Hintergrund, sagt Schöberl, tun ihnen die Imagekampagnen der Händler oder der leicht fallende Zuckerkonsum der Österreicher nicht weh. „Da gibt es größere Baustellen.“
Johann Marihart hat seine Investoren vorsorglich gewarnt. Der abgetauchte Zuckerpreis und Ernteausfälle werden das Ergebnis seines Nahrungsmittelkonzerns Agrana heuer voll treffen. Und Billigkonkurrenz soll bereits versuchen, dem Hersteller des „Wiener
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der erwachsenen Österreicher sind laut dem aktuellen Österreichischen Ernährungsbericht übergewichtig. Die WHO spricht von einer „Epidemie“und hält Zucker für mitschuldig an vielen Zivilisationskrankheiten.
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der in Österreich von der Agrana produzierten 450.000 Tonnen Zucker gehen nicht in den Supermarkt, sondern direkt an die Lebensmittelund Getränkehersteller. Nach der Verarbeitung sind sie der „versteckte Zucker“, vor dem Ärzte, Gesundheitsorganisationen und Diätologen warnen. Zuckers“am liberalisierten Markt Kunden wegzufischen. Aber Marihart hält an den zwei Zuckerfabriken in Österreich fest. Er glaubt an sein Produkt, auch wenn andere zum Kampf blasen. 20 Prozent seines Gewinns hängen an 95.000 Hektar Zuckerrübenfeldern. „Zucker ist per se nicht schlecht, es ist ein Grundnahrungsmittel, ein Naturprodukt, ein Grundbedürfnis, ohne Zucker können unsere Körperzellen keine Minute überleben. Essen wir zu viel davon? Das ist eine berechtigte Frage.“ Zu viel Zucker oder zu viel Kalorien? Mit seiner Antwort liegt er ganz auf Linie der Lebensmittelindustrie: Nicht der Zucker, sondern die Kalorienbilanz eines Menschen mache ihn potenziell dick und krank, hört man von beiden. Nimmt man nur den Zucker aus dem Müsli und füllt es mit Flocken auf, ist wenig gewonnen, sagt Marihart. Wenn der Handel anderes suggeriere, täusche er die Konsumenten, die es kaufen, „um nicht dick und fett zu werden“.
Es steht Aussage gegen Aussage. Die Händler meinen, die Hersteller hätten fahrlässig lang zu viel Zucker verwendet. Sie sehen ihre Aktionen als nötige Bremse. Die Industrie spricht von einem Hype. Seit Jahrzehnten hätte man auf die Kundenwünsche reagiert und weniger gesüßt. Alles andere wäre betriebswirtschaftlicher Wahnsinn gewesen, sagt Sprecherin Katharina Koßdorff. Das Thema sei nicht neu, werde nur neu beworben. „Und wir dürfen nicht glauben, das Problem Adipositas mit weniger Zucker zu lösen.“
Vor solchen Versprechen hüten sich die Händler. Sie feiern lieber kleine Siege: In Deutschland wählten die Tester den Rewe-Pudding mit 30 Prozent weniger Zucker zum Sieger. Das ist exakt die magische Grenze, ab der die EU Werbung mit „weniger Zucker“erlaubt. Womit die Kampagne ihr naheliegendes Ziel erreicht haben dürfte.
»Der Konsument und nicht ein anderer – am Ende noch die EU – bestimmt die Rezeptur.«