Die Presse am Sonntag

Der süße Teufel

Zucker steht am Pranger. Jetzt sorgen sich nicht nur Ärzte, sondern auch Supermärkt­e um unsere Ernährung. Die Industrie schreit auf: Zucker ist nicht böse – und der Kunde mündig.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Du bist Zucker, ruft einem das Plakat zu. Und setzt nach: „Wie viel Zucker brauchst du noch?“Was nach einem verunglück­ten Flirt klingt, ist die neue Werbung, mit der der Handelsrie­se Rewe das Reizthema anfasst. „Es ist der nettere Zugang als zu sagen, Zucker ist böse und schlecht und bringt dich irgendwann um“, erklärt ein Sprecher die Kampagne, die groß bei Billa, Adeg und Merkur läuft. Und weil es bei der deutschen Mutter so gut funktionie­rt hat, lässt man zurzeit auch die Österreich­er – gegen Entgelt – Schokolade­pudding mit 20, 30 und 40 Prozent weniger Zuckergeha­lt verkosten und abstimmen.

„Bewusstsei­nsbildung“, nennt das Tanja Dietrich-Hübner, die bei Rewe die Stabstelle für Nachhaltig­keit leitet. Modethemen wie Regionalit­ät und Bio, aber auch Aufreger wie Palmöl, Zucker und Fett landen bei ihr. „In der schnellleb­igen Zeit verliert man so leicht den Überblick, was man zu sich nimmt“, sagt sie. Ihre Kette wolle zur Aufklärung beitragen. „Aber jeder hat die Wahl.“Die Betonung ist ihr wichtig. Rübenbauer­n in der Klemme. „Die, die auf gesunde Ernährung achten, werden zum Glück immer mehr“, sagt Nicole Berkmann vom Rivalen Spar. „Das Problem sind die, die nicht so darauf achten und viel Weizenmehl und Zucker konsumiere­n. Die wollen wir sukzessive an weniger Zucker gewöhnen.“Ihr Unternehme­n hat dem Nahrungsmi­ttel 2017 wörtlich den „Kampf“angesagt.

Die Vorwürfe gegen ihre Einnahmequ­elle kennen Lebensmitt­elherstell­er und Zuckerrübe­nbauern zur Genüge. Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) spricht längst von einer Fettleibig­keitsepide­mie in Europa – und gibt dem Zucker Mitschuld. Mexiko, Frankreich und Großbritan­nien besteuern auf Vorschlag von WHO und EU süße Softdrinks. Auch Nestle´ und Coca-Cola haben sich Nachfrage und wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen gebeugt und stellen Light-Versionen ins Regal.

„Es wird kein Rübenbauer sagen, dass es sinnvoll ist, übermäßig viel Zucker zu konsumiere­n“, sagt Markus Schöberl, der 6000 von ihnen in Österreich vertritt. „Aber das, was der Handel hier macht, ist reine Bevormundu­ng. Der Konsument und nicht irgendein anderer – am Ende noch die EU – bestimmt die Rezeptur.“

Auf die EU sind die Rübenbauer­n gar nicht gut zu sprechen. Mit dem Wegfall der Zuckerquot­e im Herbst explodiert­e das Angebot. Der Zuckerprei­s stürzte ab. Und weil nicht nur die EU zu viel produziert­e, brach gleichzeit­ig der Weltmarkt zusammen. Die Überproduk­tion nennt Schöberl „eine der fatalsten Entscheidu­ngen der Branche“.

Aber die EU verhalte sich wenig hilfreich. Sie lasse zollfreien Billigzuck­er aus Entwicklun­gsländern weiter auf den Markt rieseln und verbiete ihnen als Draufgabe noch das Pestizid Neonicotin­oid. Das bringe viele Rübenbauer­n, die durch den Preisverfa­ll bereits defizitär wirtschaft­en, an die Grenzen. Vor dem Hintergrun­d, sagt Schöberl, tun ihnen die Imagekampa­gnen der Händler oder der leicht fallende Zuckerkons­um der Österreich­er nicht weh. „Da gibt es größere Baustellen.“

Johann Marihart hat seine Investoren vorsorglic­h gewarnt. Der abgetaucht­e Zuckerprei­s und Ernteausfä­lle werden das Ergebnis seines Nahrungsmi­ttelkonzer­ns Agrana heuer voll treffen. Und Billigkonk­urrenz soll bereits versuchen, dem Hersteller des „Wiener

Prozent

der erwachsene­n Österreich­er sind laut dem aktuellen Österreich­ischen Ernährungs­bericht übergewich­tig. Die WHO spricht von einer „Epidemie“und hält Zucker für mitschuldi­g an vielen Zivilisati­onskrankhe­iten.

Prozent

der in Österreich von der Agrana produziert­en 450.000 Tonnen Zucker gehen nicht in den Supermarkt, sondern direkt an die Lebensmitt­elund Getränkehe­rsteller. Nach der Verarbeitu­ng sind sie der „versteckte Zucker“, vor dem Ärzte, Gesundheit­sorganisat­ionen und Diätologen warnen. Zuckers“am liberalisi­erten Markt Kunden wegzufisch­en. Aber Marihart hält an den zwei Zuckerfabr­iken in Österreich fest. Er glaubt an sein Produkt, auch wenn andere zum Kampf blasen. 20 Prozent seines Gewinns hängen an 95.000 Hektar Zuckerrübe­nfeldern. „Zucker ist per se nicht schlecht, es ist ein Grundnahru­ngsmittel, ein Naturprodu­kt, ein Grundbedür­fnis, ohne Zucker können unsere Körperzell­en keine Minute überleben. Essen wir zu viel davon? Das ist eine berechtigt­e Frage.“ Zu viel Zucker oder zu viel Kalorien? Mit seiner Antwort liegt er ganz auf Linie der Lebensmitt­elindustri­e: Nicht der Zucker, sondern die Kalorienbi­lanz eines Menschen mache ihn potenziell dick und krank, hört man von beiden. Nimmt man nur den Zucker aus dem Müsli und füllt es mit Flocken auf, ist wenig gewonnen, sagt Marihart. Wenn der Handel anderes suggeriere, täusche er die Konsumente­n, die es kaufen, „um nicht dick und fett zu werden“.

Es steht Aussage gegen Aussage. Die Händler meinen, die Hersteller hätten fahrlässig lang zu viel Zucker verwendet. Sie sehen ihre Aktionen als nötige Bremse. Die Industrie spricht von einem Hype. Seit Jahrzehnte­n hätte man auf die Kundenwüns­che reagiert und weniger gesüßt. Alles andere wäre betriebswi­rtschaftli­cher Wahnsinn gewesen, sagt Sprecherin Katharina Koßdorff. Das Thema sei nicht neu, werde nur neu beworben. „Und wir dürfen nicht glauben, das Problem Adipositas mit weniger Zucker zu lösen.“

Vor solchen Verspreche­n hüten sich die Händler. Sie feiern lieber kleine Siege: In Deutschlan­d wählten die Tester den Rewe-Pudding mit 30 Prozent weniger Zucker zum Sieger. Das ist exakt die magische Grenze, ab der die EU Werbung mit „weniger Zucker“erlaubt. Womit die Kampagne ihr naheliegen­des Ziel erreicht haben dürfte.

»Der Konsument und nicht ein anderer – am Ende noch die EU – bestimmt die Rezeptur.«

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