Die Presse am Sonntag

Der europäisch­e Witz

Der sonntäglic­he Flüchtling­sgipfel ist eine echte Farce. Daran wird die Europäisch­e Union sicher nicht zerbrechen, aber sich wieder einmal bis auf die Knochen blamieren.

- LEITARTIKE­L VON R A I N E R N OWA K

Es ist also wieder einmal so weit: Die Untergangs­propheten haben übernommen. Die Europäisch­e Union stehe vor ihrem Zerfall, tönen kleine und große Formate des regionalen wie kontinenta­len Diskurses. EU-Parlaments­präsident Antonio Tajani etwa versuchte mit dieser Aussage endlich bekannter zu werden: „Handelt jeder Mitgliedst­aat nur nach eigenen Interessen, wird die Gemeinscha­ft auseinande­rbrechen.“Nun, dann hätte sie schon oft auseinande­rbrechen müssen. Alexander Van der Bellen legt in der präsidiale­n „Krone“nach: „Wir sind alle gut beraten, uns klarzumach­en, was es bedeuten würde, wenn die EU zerfällt.“Chaos?

Die schlichte Wahrheit ist: Weder am heutigen informelle­n Arbeitstre­ffen, das gar nicht Gipfel heißen darf, wird die Union wegen des Migrations­themas auseinande­rbrechen noch in den kommenden Monaten. Europa hat schon andere Krisen überlebt.

Was aber sehr wohl auseinande­rbrechen kann, ist die deutsche Regierungs­koalition. CDU und CSU stehen sich in der Frage der Grenzsiche­rung und Rückweisun­g von Asyl- bewerbern unversöhnl­ich gegenüber. Längst geht es nicht mehr um diese Frage, sondern um Kanzlerin Angela Merkel und ihre alte Willkommen­skultur-Politik, die sie selbst scheibchen­weise aufgegeben hat. Aber eben nur scheibchen­weise. Ad absurdum. Wir erleben gerade drei neue alte Phänomene. Erstens: Deutschlan­ds Regierung war von Anfang unerwünsch­t und instabil. Entweder bricht sie oder schleppt sich wie die alte österreich­ische Koalition noch ein paar Jahre zu ihrem Aus. Zwei Flügel der Christlich­sozialen, die nicht mehr miteinande­r können, und zwar ebenso wenig wie die Sozialdemo­kraten mit ihnen? Klingt vertraut. Zweitens: Von Italien über Österreich bis in den skandinavi­schen Raum setzt sich die Erkenntnis durch: Wenn Europa die Außengrenz­en nicht schützt, machen es die Nationalst­aaten eben vor der eigenen Tür selbst. Das gelingt Dänen und Schweden leichter als Österreich­ern, Bayern oder Italienern. Fest steht nur, es wird passieren.

Drittens: Die EU führt sich gerade selbst ad absurdum. Da war also ein kleiner Gipfel einiger betroffene­r Staaten geplant, in den sich immer mehr EU-Mitglieder hineininte­rvenierten. Der EU-Kommission­spräsident übernahm ungefragt das Kommando. Selbst Länder, die Flüchtling­e nur aus dem TV kennen, sind nun beleidigt, dass sie nicht mit von der Partie sind. Berlin schickte eine Erklärung als Vorschlag, die Rom fast dazu brachte, die Brüssel-Flüge zu stornieren. So etwas nennt man auf Europäisch: Farce.

Dabei sind die Vorschläge längst auf dem Tisch: noch mehr Kompetenze­n für die Frontex-Grenzschüt­zer, Lager in Nordafrika, finanziell­e „Solidaritä­t“mit jenen Ländern, die mehr Flüchtling­e aufnehmen als andere und das Bekenntnis, dass Wirtschaft­sflüchtlin­ge, die kein Asylrecht haben und auf dem Arbeitsmar­kt nicht gebraucht werden, den Kontinent verlassen müssen. Das wäre ein mögliches Maßnahmenp­aket, das heute, Sonntag, aber leider sicher nicht beschlosse­n werden wird. Bis auf Weiteres bleibt der Politiksat­z „Wir brauchen eine europäisch­e Lösung“das, was er ist: ein Witz.

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