»Fans können nicht mitbestimmen«
Ingo Petz beschäftigt sich mit Fußballkultur in Osteuropa. Der Fan-Experte erklärt, warum Fußball in den Händen des Staates liegt, wie groß Russlands Rechtsextremismusproblem ist und warum er der WM ambivalent gegenübersteht.
Rund 20.000 Tickets wurden bei der WM an Deutsche verkauft – im Vergleich zu anderen Nationen ist das nicht viel. Warum kommen nur wenige Deutsche nach Russland? Ingo Petz: Die aktive Fanszene und die Ultraszene in Deutschland fährt nicht zur WM, das hat mit der Kritik an Fifa und DFB zu tun. Es gibt Kritik an der Kommerzialisierung und der geringen Freiheit für Fanentfaltung. Die Fans der Nationalmannschaft hat wohl auch die Kritik an der WM-Vergabe abgeschreckt. Russland gilt als problematischer Austragungsort: Annexion der Krim, Krieg in der Ostukraine, Syrien, die mutmaßliche Einmischung Moskaus bei Wahlen in westlichen Staaten, die Unterstützung rechtsradikaler Parteien in Europa. Das hat wohl einige abgehalten, nach Russland zu fahren. Bei welchen Problemen hilft die Fanbotschaft, bei der Sie in Russland mitarbeiten? Meist sind es ganz praktische Dinge – wie komme ich von A nach B, wo krieg ich noch ein Ticket für den Sonderzug nach Sotschi, was tue ich, wenn ich meinen Pass verloren habe. Auch Mitarbeiter der deutschen Botschaft sind bei der Fanbotschaft dabei. Nach dem Spiel gegen Mexiko kam ein Fan, der sein Banner mit der Aufschrift seiner Heimatstadt wiederhaben wollte. Er hatte es im Stadion aufgehängt, es wurde konfisziert. Bei der WM müssen Banner angemeldet werden, dürfen nicht politisch sein und müssen eine bestimmte Größe haben. Wir haben das zurückorganisiert. Allgemein gilt: Es ist wichtig, die Kommunikation zwischen Organisatoren und Fans aufrechtzuerhalten, auszuleuchten, ob es Problemlagen gibt. Falls ja, steigt schnell die Unzufriedenheit und möglicherweise die Aggression. Muss denn nicht der Fußballweltverband irgendwann auch die Vergabepolitik ändern? Einerseits gibt es Kritik an der Fifa, dass sie staatliche Hoheitsrechte beeinflusst, indem Steuer- oder Grenzregelungen beeinflusst werden, und die WM an problematische, autokratische Staaten vergibt, wo Menschenrechte verletzt werden. Es geht nicht nur um Russland. In Qatar ist das ja ein noch größeres Thema – da gibt es ja nicht mal eine Fußballfankultur. Es ist kompletter Wahnsinn, die WM an so ein Land zu vergeben. Andererseits haben viele Menschen im Westen keine Lust mehr auf so große Veranstaltungen. Doch es kann uns auch nicht gefallen, dass diese Wettbewerbe nur noch an autokratische Staaten gehen. Da sind Reformen in der Fifa notwendig. Das ist ein langwieriger, schwieriger Prozess. In Deutschland wurde diese Debatte angestoßen, das heißt aber nicht, dass das weltweit so ist. Mit der WM kommen Tausende Ausländer in ein sanktioniertes, sich selbst isolierendes Land. Welche Dynamik wird da frei? Ich selbst bin mit einem ambivalenten Gefühl hier. Mir sind Menschenrechte wichtig, ich habe ukrainische Freunde, die nicht gut finden, dass die WM in Russland stattfindet. Das hier herrschende Narrativ ist: Wir sind umzingelt von Feinden, deshalb müssen wir uns verteidigen, uns will keiner, wir können uns nur noch auf uns selbst verlassen. Die Leute glauben das, das zeigen Umfragen. Zumindest für die kurze Zeit der WM ist es toll, dass Leute aus 31 Nationen nach Russland kommen, die Bars und Metrostationen überfluten, mit den Russen in Kontakt treten. Moskau ist touristisch erschlossen, aber so etwas hat die Stadt noch nicht erlebt. Und erst die Provinz – 10.000 Briten in Wolgograd! Man spürt Neugier von russischer Seite: Singende und tanzende Mexikaner, und die Russen machen mit. Das sind kleine Kontakte, aber man kann hoffen, dass sich mehr Offenheit und Interesse aneinander entwickelt. Man sieht, dass Russen – und ich meine damit die Menschen selbst – gute Gastgeber sein wollen. Es ist also nicht alles nur Show? Der Fußball hat einen eigenen Wert. Er bringt Menschen zusammen, die sich sonst niemals treffen würden. Wann kommen sonst Iraner, Peruaner oder Australier nach Russland? Dass alle hier sind, macht etwas mit dem Land. Eine WM ist eine Chance für zwischenmenschliche Beziehungen. Andererseits – kann eine einmonatige Veranstaltung nationale Narrative aufbrechen? Man sollte da nicht zu optimistisch sein. Wenn man sich hier mit Menschen unterhält, stößt man relativ schnell an Grenzen – bei politischen Themen wie der Ukraine, dem Krieg im Donbass. Da kommt man nicht zusam- men. Aber für die Russen können diese Treffen wichtig sein: Sie sehen, dass sie nicht die Wichtigsten auf der Welt sind. Die Selbstbezogenheit, die viele großen Länder bzw. ehemalige Imperien haben, wird ein wenig aufgebrochen. Konzentriert sich der russische Profifußball wie früher noch immer auf Moskau? Ja, eine Folge des Sowjetsystems. Da sind Spartak, ZSKA, Dynamo, Lokomotive; Zenit aus St. Petersburg spielt eine Rolle, auch Krasnodar. Als Fußballspieler musst du nach Moskau kommen, wenn du was werden willst. Wie unterscheiden sich die Fanstrukturen in Russland von jenen in Österreich oder Deutschland? Organisierte Fans, die sich für Fanrechte, gegen Rassismus oder für bessere Anstoßzeiten einsetzen, gibt es in Russland nur wenige. Das größte Problem ist, dass die autoritären Strukturen in Staat, Verbänden und Vereinen ihnen keinen Freiraum geben, sondern Fans immer noch als Problem wahrnehmen. Das hat auch Folgen, wenn es um Rassismus und Rechtsradikalismus bei den Ultras hier geht. Den Leuten, die etwas dagegen unternehmen wollen, wird keine Plattform geboten – weder von den Vereinen noch vom Staat. Die Fußballvereine werden in Russland immer noch weitgehend über den Staatshaushalt finanziert. Vereine wurden zur Sowjetzeit von staatlichen Institutionen oder Unternehmen gegründet. Mitgliedervereine sind in Russland nicht üblich. Fußball von Menschen für Menschen, mit Beteiligung und Eigeninitiative, gibt es nicht. Somit gibt es eine grundsätzlich andere Kultur, in der sich Mitbestimmung und Partizipation nicht entwickeln können. Die organisierten Fans haben in Russland einen schlechten Ruf. Wie groß ist das Rechtsextremismusproblem? Es existiert, aber ich würde es nicht dämonisieren. Der Fußball hier benötigt noch viel mehr normale Leute – normale Fans und Menschen, die sich im Positiven für ihren Klub einsetzen, die etwas gegen Rassismus tun, die für die eigenen Faninteressen aufstehen. Die WM könnte hier positiv wirken. Es gibt nun einen Antirassismusbeauftragten, Alexej Smertin, Ex-Chelsea-Spieler. Man wird sehen, wie viel der tun kann. Im Vorfeld der WM wurde vor Zusammenstößen zwischen gewaltbereiten Fans bzw. Angriffen russischer Hooligans gewarnt. Bis jetzt geschah absolut gar nichts. Wie hoch ist also tatsächlich das Risiko? Das wird von Medien sehr sensationalistisch behandelt. Die Gefahr wird eher herbeigeredet. Der Staat hat „aufgeräumt“. Das geht in einer Autokratie, weil man demokratische Grundrechte leichter aushebeln kann, leider viel leichter. Man hat über 400 Hooligans auf eine Schwarze Liste gesetzt, sie haben Hausbesuche vom FSB erhalten, und man hat ihnen deutlich gemacht, dass sie sich ruhig verhalten sollen. Präsident Wladimir Putin hat natürlich kein Interesse, sich den Glanz der WM von den eigenen Hooligans ruinieren zu lassen. Warum heißen die russischen Fans Bolelschiki? Das Wort kommt vom Verb „bolet“. Das heißt: leiden, krank sein. Bolelschiki ist der Oberbegriff für alle, die für irgendetwas fiebern. Wer Fan ist, der hat auch mal Schmerzen, der leidet sehr viel, er fiebert – aus Vorfreude, vor Aufregung. Ultras und organisierte Fans, sogenannte Fanaty, lehnen den Begriff ab, da sie sich selbst für leidenschaftlicher halten, ihrem Team bei den Spielen hinterherfahren und eben mehr am Leben ihres Vereines Anteil nehmen.