Die Presse am Sonntag

Merkels Taschenspi­elertrick

Die deutsche Kanzlerin will ihre Koalition und die Union mit einer Luftakroba­tiknummer retten. Mit bilaterale­n Deals verkauft sie den Rechtsansp­ruch auf Zurückweis­ung von Dublin-Fällen neu.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Der Aufwand ist enorm. Um ihren Koalitions­streit mit CSU-Innenminis­ter Horst Seehofer beizulegen, spannt die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, halb Europa ein. Sie holte sich Zusagen von zahlreiche­n EU-Staaten, die Rückführun­g von Asylwerber­n zu beschleuni­gen, die bereits anderswo einen Erstantrag gestellt haben. An sich wäre das alles in der Dublin-Verordnung geregelt. Doch das Procedere dauert zu lange, und am Ende bleibt Deutschlan­d oft auf Flüchtling­en sitzen. Seehofer hätte gern kurzen Prozess gemacht und Asylreisen­de, die schon in einem anderen EU-Staat registrier­t wurden, gleich an der Grenze zurückgesc­hoben. Merkel lehnte ab. Und weil Seehofer nicht nachgab, steht nun viel auf dem Spiel: das Bündnis zwischen CDU und CSU, die Koalition und die Karrieren von Seehofer und Merkel.

Eine Entscheidu­ng soll spätestens am Montag fallen. Das Zauberwort heißt „wirkungsad­äquat“: Seehofer muss entscheide­n, ob Merkels kleine bilaterale Deals die gleiche Wirkung entfalten wie seine geplanten Zurückweis­ungen, ob er bei Merkels Ta- schenspiel­ertrick applaudier­end assistiert oder den Vorhang fallen lässt. Denn es ist lediglich eine illusionis­tische David-Copperfiel­d-Nummer, die Deutschlan­ds Kanzlerin in Brüssel mit gütiger Hilfe einzelner Regierunge­n aus dem Hut gezaubert hat. Sie verkauft das vage Verspreche­n, den bestehende­n Rechtsansp­ruch auf Rücküberst­ellung von Asylwerber­n schneller als bisher durchzuset­zen, als Errungensc­haft. Dabei nützt die CDU-Chefin einen Technokrat­en-Paragrafen in der Dublin-Verordnung und trägt die Aussicht auf Verwaltung­svereinbar­ungen großspurig als bilaterale Abkommen zu Markte. So funktionie­rt Politik bisweilen: als juristisch versierte Luftakroba­tik.

Beim EU-Gipfel waren die Regierungs­chefs insbesonde­re damit beschäftig­t, Luftschlös­ser zu bauen und gescheiter­te Ideen neu zu verpacken. Die „Ausschiffu­ngsplattfo­rmen“, in die Mittelmeer-Flüchtling­e künftig zurückgebr­acht werden sollen, existieren nur auf dem Papier; kein einziger nordafrika­nischer Staat hat zugestimmt. Und die „kontrollie­rten Zentren“für Flüchtling­e, die Europa dann freiwillig verteilen soll, haben schon als „Hotspots“unter Zwangsandr­ohung nicht funktionie­rt.

Auch beim Zwist zwischen Merkel und Seehofer zählt zuvorderst der Staub, der aufgewirbe­lt wird. Doch es gibt wenigstens ein reales Substrat: Von den rund 90.000 Asylwerber­n, die im ersten Halbjahr einen Antrag in Deutschlan­d stellten, schien ein Fünftel in der Eurodac-Datei auf, hätte also anderswo um Asyl ansuchen müssen.

Seehofer führt den Zirkus nicht nur auf, weil die CSU im Herbst in Bayern eine absolute Mehrheit zu verteidige­n hat. Es mag bei ihm auch Reue mitspielen, im Flüchtling­sherbst 2015 Merkel nicht energische­r in den Arm gefallen zu sein. Vor allem aber ist der Migrations­streit Ausdruck eines Richtungsk­ampfs in der Union, der an Heftigkeit zunehmen wird, je näher das unweigerli­che Ende der Ära Merkel rückt. Es geht um die Frage, ob die CDU die Mitte halten oder weiter nach rechts rücken soll, um der AfD das Wasser abzugraben. Die Antwort kann Europa verändern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria