»Wir erleben eine Wiederkehr des Totalitären«
Warum haben wir den Glauben an den Fortschritt weitgehend verloren? Der Wirtschaftspublizist Wolf Lotter widmet dieser entscheidenden Frage ein ganzes Buch. Mit der »Presse am Sonntag« spricht er über Denkbarrieren, die zunehmende Unbildung und die neue L
Sie nennen Ihr jüngstes Buch „Innovation“, eine „Streitschrift für barrierefreies Denken“. Welche Denkbarrieren müssen wir überwinden? Wolf Lotter: Bei vielen Menschen ist die Vorstellung verbreitet: Es kann nicht mehr besser werden. Wir haben verlernt, an den Fortschritt zu denken, wir haben gelernt, an den Erhalt des Systems zu denken. „Industria“heißt ja Fleiß. Deshalb ist die Industriegesellschaft eine Gesellschaft, die die Fleißigen fördert. Allerdings jene, die immerzu das Gleiche tun und nicht jene, die innovativ sind. Aber wir hören von der Industrie, von den Unternehmensverbänden und der Politik, dass wir alle „innovativer“sein müssen. Ja, aber im Grunde ist das alles eine Augenauswischerei. Innovation kann man nicht verordnen. Außerdem bedeutet Innovation immer einen Kon- flikt zwischen dem, das da ist, und dem, was kommt. Aber diesen Konflikt gab es doch schon immer. Auch die Angst vor der Veränderung. Ja, deshalb geht es darum, eine Innovationskultur zu etablieren. Wie entsteht diese Kultur? Braucht es neue Erfindungen wie einst den Buchdruck? Durch den Buchdruck sind Dämme gebrochen. Ich glaube ja, dass die Erfindung der Brille großen Einfluss auf den steigenden Wohlstand hatte. Ältere Menschen konnten plötzlich ihr Wissen weitervermitteln, das führte zum Aufbruch in die Neuzeit. Die Alten sind also gar nicht die Verhinderer des Neuen? Es ist doch eine stereotype Vorstellung, dass die Jungen die Helden sind. Das ist ein Blödsinn. Die Jungen fordern zwar eine Veränderung, können aber nicht sagen, wie es geht. Die Alten müssen ihre Haltung überdenken. Sie müssen sich entscheiden, ob sie Widerstand leisten oder mit den Jungen kooperieren. Aufgrund des rasanten technologischen Fortschritts hat man den Eindruck, dass Erfahrung immer weniger wert ist. Wer braucht in ein paar Jahren noch die Erfahrung eines Kfz-Mechanikers? Dass Berufe aussterben, ist auch nicht neu. Denken Sie nur an den Köhler, das war einst ein wichtiger Beruf. Aber am Ende schafft Arbeit immer Arbeit. Dass die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft ablöst, bringt uns weiter. Das hat sich nur noch nicht herumgesprochen. Wir geben der Wissensgesellschaft Namen wie „Industrie 4.0“und suggerieren so, dass eh alles beim Alten bleibt. Sehr viele „Alte“gehören den Generationen an, die in der Industrie gelernt haben: Was du einmal machst, machst du dein Leben lang. Das ist also genau jene Routinegesellschaft, die sich auch bei den Jungen fortpflanzt. Wie kann man das durchbrechen? Man muss auf individuelle Fähigkeiten setzen. Es geht um das, was Menschen besonders gut können. Viele Leute machen ihr Leben lang einen Beruf, weil sie damit Geld verdienen, sind aber in ihrem Hobby total super. De facto könnten sie mit ihrem Hobby viel mehr Geld verdienen. Wir müssen wieder unser Gespür für das schärfen, womit wir Geld verdienen können. Wie? „Sag mir eine bessere Lösung als jene, die du bereits kennst.“Diesen Ansatz muss man von klein auf motivierend fördern. Dann gäbe es auch weniger Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Aber das Gegenteil passiert. Jede politische Partei verspricht, dass sich nichts dramatisch ändert. Eine Organisation ist – unabhängig davon, ob es sich um ein Amt, eine Firma oder eine Partei handelt – dazu da, dass sich Dinge nicht ändern. Das ist ja durchaus sinnvoll, so werden bestimmte Dinge standardisiert, normiert und vereinfacht. Aber: Wenn das der einzige Zweck ist, dann entsteht Bürokratie. Und Bürokratie ist der Todfeind aller Innovation und Veränderung. Bürokratische Systeme findet man nicht nur beim Staat. Natürlich nicht. Sie feiern in Privatunternehmen fröhliche Urstände. Erneuerung funktioniert deshalb nur, wenn man all diese Organisationen aufbricht – brutalst möglich. Würden Sie auch die Sozialpartnerschaft als Fortschrittsverweigerung bezeichnen, die aufgebrochen gehört? Absolut. Die Sozialpartnerschaft als ein Instrument aus einer Notzeit, wo es massive politische Gegensätze gegeben hat, hat sich in den vergangenen Jahren nicht mehr bewährt. Die Sozialpartnerschaft steht heute nicht mehr für Ausgleich und Konsens, sondern für Beharrung. Ist die Sozialpartnerschaft reformierbar? Man müsste zwischen diesen Institutionen für Wettbewerb sorgen. Das muss ein konstruktiver, offener Dialog sein, nicht wie bisher ein System, bei dem hinter verschlossenen Türen gemauschelt wird.