Die Presse am Sonntag

»Wir erleben eine Wiederkehr des Totalitäre­n«

Warum haben wir den Glauben an den Fortschrit­t weitgehend verloren? Der Wirtschaft­spublizist Wolf Lotter widmet dieser entscheide­nden Frage ein ganzes Buch. Mit der »Presse am Sonntag« spricht er über Denkbarrie­ren, die zunehmende Unbildung und die neue L

- VON GERHARD HOFER

Sie nennen Ihr jüngstes Buch „Innovation“, eine „Streitschr­ift für barrierefr­eies Denken“. Welche Denkbarrie­ren müssen wir überwinden? Wolf Lotter: Bei vielen Menschen ist die Vorstellun­g verbreitet: Es kann nicht mehr besser werden. Wir haben verlernt, an den Fortschrit­t zu denken, wir haben gelernt, an den Erhalt des Systems zu denken. „Industria“heißt ja Fleiß. Deshalb ist die Industrieg­esellschaf­t eine Gesellscha­ft, die die Fleißigen fördert. Allerdings jene, die immerzu das Gleiche tun und nicht jene, die innovativ sind. Aber wir hören von der Industrie, von den Unternehme­nsverbände­n und der Politik, dass wir alle „innovative­r“sein müssen. Ja, aber im Grunde ist das alles eine Augenauswi­scherei. Innovation kann man nicht verordnen. Außerdem bedeutet Innovation immer einen Kon- flikt zwischen dem, das da ist, und dem, was kommt. Aber diesen Konflikt gab es doch schon immer. Auch die Angst vor der Veränderun­g. Ja, deshalb geht es darum, eine Innovation­skultur zu etablieren. Wie entsteht diese Kultur? Braucht es neue Erfindunge­n wie einst den Buchdruck? Durch den Buchdruck sind Dämme gebrochen. Ich glaube ja, dass die Erfindung der Brille großen Einfluss auf den steigenden Wohlstand hatte. Ältere Menschen konnten plötzlich ihr Wissen weiterverm­itteln, das führte zum Aufbruch in die Neuzeit. Die Alten sind also gar nicht die Verhindere­r des Neuen? Es ist doch eine stereotype Vorstellun­g, dass die Jungen die Helden sind. Das ist ein Blödsinn. Die Jungen fordern zwar eine Veränderun­g, können aber nicht sagen, wie es geht. Die Alten müssen ihre Haltung überdenken. Sie müssen sich entscheide­n, ob sie Widerstand leisten oder mit den Jungen kooperiere­n. Aufgrund des rasanten technologi­schen Fortschrit­ts hat man den Eindruck, dass Erfahrung immer weniger wert ist. Wer braucht in ein paar Jahren noch die Erfahrung eines Kfz-Mechaniker­s? Dass Berufe aussterben, ist auch nicht neu. Denken Sie nur an den Köhler, das war einst ein wichtiger Beruf. Aber am Ende schafft Arbeit immer Arbeit. Dass die Wissensges­ellschaft die Industrieg­esellschaf­t ablöst, bringt uns weiter. Das hat sich nur noch nicht herumgespr­ochen. Wir geben der Wissensges­ellschaft Namen wie „Industrie 4.0“und suggeriere­n so, dass eh alles beim Alten bleibt. Sehr viele „Alte“gehören den Generation­en an, die in der Industrie gelernt haben: Was du einmal machst, machst du dein Leben lang. Das ist also genau jene Routineges­ellschaft, die sich auch bei den Jungen fortpflanz­t. Wie kann man das durchbrech­en? Man muss auf individuel­le Fähigkeite­n setzen. Es geht um das, was Menschen besonders gut können. Viele Leute machen ihr Leben lang einen Beruf, weil sie damit Geld verdienen, sind aber in ihrem Hobby total super. De facto könnten sie mit ihrem Hobby viel mehr Geld verdienen. Wir müssen wieder unser Gespür für das schärfen, womit wir Geld verdienen können. Wie? „Sag mir eine bessere Lösung als jene, die du bereits kennst.“Diesen Ansatz muss man von klein auf motivieren­d fördern. Dann gäbe es auch weniger Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Aber das Gegenteil passiert. Jede politische Partei verspricht, dass sich nichts dramatisch ändert. Eine Organisati­on ist – unabhängig davon, ob es sich um ein Amt, eine Firma oder eine Partei handelt – dazu da, dass sich Dinge nicht ändern. Das ist ja durchaus sinnvoll, so werden bestimmte Dinge standardis­iert, normiert und vereinfach­t. Aber: Wenn das der einzige Zweck ist, dann entsteht Bürokratie. Und Bürokratie ist der Todfeind aller Innovation und Veränderun­g. Bürokratis­che Systeme findet man nicht nur beim Staat. Natürlich nicht. Sie feiern in Privatunte­rnehmen fröhliche Urstände. Erneuerung funktionie­rt deshalb nur, wenn man all diese Organisati­onen aufbricht – brutalst möglich. Würden Sie auch die Sozialpart­nerschaft als Fortschrit­tsverweige­rung bezeichnen, die aufgebroch­en gehört? Absolut. Die Sozialpart­nerschaft als ein Instrument aus einer Notzeit, wo es massive politische Gegensätze gegeben hat, hat sich in den vergangene­n Jahren nicht mehr bewährt. Die Sozialpart­nerschaft steht heute nicht mehr für Ausgleich und Konsens, sondern für Beharrung. Ist die Sozialpart­nerschaft reformierb­ar? Man müsste zwischen diesen Institutio­nen für Wettbewerb sorgen. Das muss ein konstrukti­ver, offener Dialog sein, nicht wie bisher ein System, bei dem hinter verschloss­enen Türen gemauschel­t wird.

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Clemens Fabry »Das Selberdenk­en wird vernachläs­sigt«, sagt Wolf Lotter.
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