Kritik am Kitsch der Physik
Schön muss nicht wahr sein – und mit Mathematik muss man vorsichtig sein: Das sagt ein provokantes und geistreiches Buch einer theoretischen Physikerin.
Eine kurze Geschichte der Zeit“, „Die illustrierte kurze Geschichte der Zeit“, „Die kürzeste Geschichte der Zeit“, „Meine kurze Geschichte“, „Das Universum in der Nussschale“, „Der geheime Schlüssel zum Universum“, „Die unglaubliche Reise ins Universum“, „Das Universum des Stephen Hawking“: Die Reihe der Bücher von und über Stephen Hawking hat längst etwas Skurriles an sich, im Herbst 2018 wird der aus Krems stammende Astronom und Blogger Florian Freistetter sie durch einen Band namens – bitte anhalten! – „Hawking in der Nussschale: Der Kosmos des großen Physikers“verlängern. „Ein Buch, mit dem Sie tief in das gedankliche Universum des berühmten Physikers eintauchen – ohne den Verstand zu verlieren“, so wirbt der Verlag schon jetzt – und behauptet, dass „wohl nur ein Dutzend Leser weltweit behaupten können, die , Kurze Geschichte der Zeit‘ wirklich verstanden zu haben“.
Ein kurzes populärwissenschaftliches Buch, um ein anderes populärwissenschaftliches, einst für seine Verständlichkeit gepriesenes Buch zu verstehen? Irgendetwas stimmt da nicht. Ohne zu wissen, ob und wie Freistetter Hawkings metaphysische Interpretationen der imaginären Zeitachse oder seine Beschwörungen von „Gottes Plan“nachvollzieht – vielleicht ist es besser, sich der Physik einmal nicht aus der heroischen Perspektive Hawkings zu nähern. Und auch gleich auf das Pathos der Theory-of-Everything-Spekulierer zu verzichten. Glaubt denn noch irgendjemand, aus einem Buch namens „Der Stoff, aus dem der Kosmos ist“(das gibt es tatsächlich, es ist von Superstring-Theoretiker Brian Greene) wirklich zu lernen, aus welchem „Stoff“der Kosmos besteht?
Ein coolerer, weniger salbungsvoller Ton ist gefragt – und passt auch besser in eine Zeit, in der die Suche nach der umfassenden Theorie (also einer, die die vier Kräfte vereint) an Feuer verlo- ren hat. Vor allem dadurch, dass ihr immer mehr die Basis verloren geht, auf der eine Naturwissenschaft eigentlich stehen sollte: experimentelle Daten. Die Supersymmetrie, gern als Susy abgekürzt, auf die so viele theoretische Physiker so lange gesetzt haben, sagt die Existenz von doppelt so vielen Teilchen voraus, als sie das heutige Standardmodell der Teilchenphysik kennt. Doch auch mit dem größten Beschleuniger – dem Large Hadron Collider (LHC) in Genf – wurde bisher kein einziges dieser Teilchen gesichtet. Man kann weiter hoffen, dass man bei noch höheren Energien doch eines findet, aber es wird immer unwahrscheinlicher, und die Theoretiker tun sich immer schwerer damit, zu erklären, warum die SusyTeilchen gar so schwer sein sollen.
Doch viele Physiker tun sich noch schwerer damit, die Supersymmetrie aufzugeben – und mit ihr die Superstringtheorie, laut der man alle Elementarteilchen als Schwingungen winzigster Saiten betrachten soll. Die Supersymmetrie sei einfach zu schön, um falsch zu sein, meinen sie. Unter Schönheit verstehen Physiker vor allem Symmetrie, und sie lieben sie. „Physikalische Gesetze sollten mathematische Schönheit besitzen“, schrieb Paul Dirac einst auf die Tafel, als man ihn bat, seine Wissenschaftsphilosophie zusammenzufassen. Viele andere große Physiker des 20. Jahrhunderts – von Einstein und Heisenberg abwärts – schworen auf Schönheit.
Doch Schönheit kann man nicht nur, wie die Tante Jolesch sagte, mit einer Hand zuhalten, sie kann auch täuschen. Und die Physik in eine falsche Richtung führen. Genau das befürchtet Sabine Hossenfelder, selbst eine angesehene theoretische Physikerin, die in Frankfurt am Main studiert und über Schwarze Löcher in Extradimensionen promoviert hat, vor allem über Quantengravitation forscht und nebenbei scharfzüngige Bloggerin ist. „Lost in Math: How Beauty Leads Physics Astray“heißt nun ihr erstes populärwissenschaftliches Buch. Auf Deutsch wird es am 26. September unter dem unschönen Titel „Das hässliche Universum“bei Fischer erscheinen – „Man hat dort offenbar beschlossen, mich als Ketzerin zu verkaufen. Nun ja, so sei es denn“, twitterte Hossenfelder –, doch man kann durchaus empfehlen, es jetzt bereits auf Englisch zu lesen. Schon weil Hossenfelder, wiewohl deutscher Muttersprache, ein herrlich pointiertes Englisch schreibt. „I don’t see a big difference between believing nature is beautiful and believing God is kind“, erklärt sie etwa. Nein, sie glaubt nicht an Gott, aber das Pathos, mit dem Hawking den „Plan Gottes“finden und Gott damit überflüssig machen wollte, ist ihr fremd.
Genauso wie die Gier nach metaphysischen Spekulationen, die unter theoretischen Physikern am Ende des 20. Jahrhunderts ja eine seltsame Wendung genommen haben. Als sie draufkamen, dass es nicht eine, sondern sehr, sehr viele mögliche Superstringtheorien gibt – und keinen wirklichen Grund, sich für eine zu entscheiden –, reagierten manche Physiker mit der Annahme, dass eben alle möglichen Theorien verwirklicht seien. Nur eben in jeweils einem anderen Universum. So viele Universen! Zusammen mit der bizarren Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie – nach der sich bei jedem Kollaps einer Wellenfunktion die ganze Welt verdoppelt – entstand so die erkenntnistheoretisch höchst bedenkliche Flut von Universen, die seitdem durch die Physik schwappt. Hossenfelder spricht vom „bizarren Schluss, dass wir, wenn wir im LHC keine supersymmetrischen Teilchen sehen, eben in einem Multiversum leben“, und sie kommentiert schmallippig: „Ich kann es nicht fassen, was aus dieser einst ehrwürdigen Profession geworden ist. Einst pflegten theoretische Physiker zu erklären, was beobachtet worden war. Nun versuchen sie zu erklären, warum sie nicht erklären können, was nicht beobachtet worden ist. Und sie sind dabei nicht einmal gut.“
Gewiss, Hossenfelder kokettiert ein bisschen mit der Rolle der Respektlosen – „It’s not very popular to criticize your own tribe“, schreibt sie einmal, „but this tent stinks“–, aber sie bleibt seriös, und sie weiß, dass sie nicht die erste ist: 2007 veröffentlichte der USPhysiker Peter Woit seine herbe Kritik an der Superstringtheorie unter dem Titel „Not Even Wrong“, in Anspielung auf Wolfgang Pauli, der eine verstiegene Theorie einst mit dem Satz „Das ist nicht einmal falsch“verriss.
»Ich kann nicht fassen, was aus dieser einst ehrwürdigen Profession geworden ist.« »Das ist nicht einmal falsch«, sagte Wolfgang Pauli über eine verstiegene Theorie.
Hossenfelder ist selbstbewusst genug, um etliche Kollegen zu Wort kommen zu lassen, gerade auch Vertreter der kritisierten Theorien, etwa Steven Weinberg, dem sie freilich bissig attestiert: „He doesn’t talk to you, he talks at you.“Sie konnte ihren Gesprächspartnern viel Griffiges entlocken, besonders schön und beherzigenswert ist ein Exkurs von George Ellis über die Probleme der Physik mit dem Begriff Unendlichkeit: „Es sollte ein philosophisches Grundprinzip sein, dass nichts physikalisch Reales unendlich ist“, sagt er.
„Es gibt keinen guten mathematischen Grund, warum eine Theorie keine Unendlichkeiten haben sollte“, antwortet Sabine Hossenfelder: Das sei eben eine philosophische Forderung. So ist ihr Plädoyer für Vorsicht im Umgang mit den verführerischen Reizen der mathematischen Schönheit zugleich eines für eine neue Offenheit für die gute alte Ratgeberin Philosophie. Ein so provokantes wie geistreiches Buch, das in alle Ferienlandschaften passt. Auch in asymmetrische. Sabine Hossenfelder: „Lost in Math: How Beauty Leads Physics Astray“, ca. 290 S., Basic Books, New York. Erscheint am 26. 9. auf Deutsch.