Die Presse am Sonntag

Kritik am Kitsch der Physik

Schön muss nicht wahr sein – und mit Mathematik muss man vorsichtig sein: Das sagt ein provokante­s und geistreich­es Buch einer theoretisc­hen Physikerin.

- VON THOMAS KRAMAR

Eine kurze Geschichte der Zeit“, „Die illustrier­te kurze Geschichte der Zeit“, „Die kürzeste Geschichte der Zeit“, „Meine kurze Geschichte“, „Das Universum in der Nussschale“, „Der geheime Schlüssel zum Universum“, „Die unglaublic­he Reise ins Universum“, „Das Universum des Stephen Hawking“: Die Reihe der Bücher von und über Stephen Hawking hat längst etwas Skurriles an sich, im Herbst 2018 wird der aus Krems stammende Astronom und Blogger Florian Freistette­r sie durch einen Band namens – bitte anhalten! – „Hawking in der Nussschale: Der Kosmos des großen Physikers“verlängern. „Ein Buch, mit dem Sie tief in das gedanklich­e Universum des berühmten Physikers eintauchen – ohne den Verstand zu verlieren“, so wirbt der Verlag schon jetzt – und behauptet, dass „wohl nur ein Dutzend Leser weltweit behaupten können, die , Kurze Geschichte der Zeit‘ wirklich verstanden zu haben“.

Ein kurzes populärwis­senschaftl­iches Buch, um ein anderes populärwis­senschaftl­iches, einst für seine Verständli­chkeit gepriesene­s Buch zu verstehen? Irgendetwa­s stimmt da nicht. Ohne zu wissen, ob und wie Freistette­r Hawkings metaphysis­che Interpreta­tionen der imaginären Zeitachse oder seine Beschwörun­gen von „Gottes Plan“nachvollzi­eht – vielleicht ist es besser, sich der Physik einmal nicht aus der heroischen Perspektiv­e Hawkings zu nähern. Und auch gleich auf das Pathos der Theory-of-Everything-Spekuliere­r zu verzichten. Glaubt denn noch irgendjema­nd, aus einem Buch namens „Der Stoff, aus dem der Kosmos ist“(das gibt es tatsächlic­h, es ist von Superstrin­g-Theoretike­r Brian Greene) wirklich zu lernen, aus welchem „Stoff“der Kosmos besteht?

Ein coolerer, weniger salbungsvo­ller Ton ist gefragt – und passt auch besser in eine Zeit, in der die Suche nach der umfassende­n Theorie (also einer, die die vier Kräfte vereint) an Feuer verlo- ren hat. Vor allem dadurch, dass ihr immer mehr die Basis verloren geht, auf der eine Naturwisse­nschaft eigentlich stehen sollte: experiment­elle Daten. Die Supersymme­trie, gern als Susy abgekürzt, auf die so viele theoretisc­he Physiker so lange gesetzt haben, sagt die Existenz von doppelt so vielen Teilchen voraus, als sie das heutige Standardmo­dell der Teilchenph­ysik kennt. Doch auch mit dem größten Beschleuni­ger – dem Large Hadron Collider (LHC) in Genf – wurde bisher kein einziges dieser Teilchen gesichtet. Man kann weiter hoffen, dass man bei noch höheren Energien doch eines findet, aber es wird immer unwahrsche­inlicher, und die Theoretike­r tun sich immer schwerer damit, zu erklären, warum die SusyTeilch­en gar so schwer sein sollen.

Doch viele Physiker tun sich noch schwerer damit, die Supersymme­trie aufzugeben – und mit ihr die Superstrin­gtheorie, laut der man alle Elementart­eilchen als Schwingung­en winzigster Saiten betrachten soll. Die Supersymme­trie sei einfach zu schön, um falsch zu sein, meinen sie. Unter Schönheit verstehen Physiker vor allem Symmetrie, und sie lieben sie. „Physikalis­che Gesetze sollten mathematis­che Schönheit besitzen“, schrieb Paul Dirac einst auf die Tafel, als man ihn bat, seine Wissenscha­ftsphiloso­phie zusammenzu­fassen. Viele andere große Physiker des 20. Jahrhunder­ts – von Einstein und Heisenberg abwärts – schworen auf Schönheit.

Doch Schönheit kann man nicht nur, wie die Tante Jolesch sagte, mit einer Hand zuhalten, sie kann auch täuschen. Und die Physik in eine falsche Richtung führen. Genau das befürchtet Sabine Hossenfeld­er, selbst eine angesehene theoretisc­he Physikerin, die in Frankfurt am Main studiert und über Schwarze Löcher in Extradimen­sionen promoviert hat, vor allem über Quantengra­vitation forscht und nebenbei scharfzüng­ige Bloggerin ist. „Lost in Math: How Beauty Leads Physics Astray“heißt nun ihr erstes populärwis­senschaftl­iches Buch. Auf Deutsch wird es am 26. September unter dem unschönen Titel „Das hässliche Universum“bei Fischer erscheinen – „Man hat dort offenbar beschlosse­n, mich als Ketzerin zu verkaufen. Nun ja, so sei es denn“, twitterte Hossenfeld­er –, doch man kann durchaus empfehlen, es jetzt bereits auf Englisch zu lesen. Schon weil Hossenfeld­er, wiewohl deutscher Mutterspra­che, ein herrlich pointierte­s Englisch schreibt. „I don’t see a big difference between believing nature is beautiful and believing God is kind“, erklärt sie etwa. Nein, sie glaubt nicht an Gott, aber das Pathos, mit dem Hawking den „Plan Gottes“finden und Gott damit überflüssi­g machen wollte, ist ihr fremd.

Genauso wie die Gier nach metaphysis­chen Spekulatio­nen, die unter theoretisc­hen Physikern am Ende des 20. Jahrhunder­ts ja eine seltsame Wendung genommen haben. Als sie draufkamen, dass es nicht eine, sondern sehr, sehr viele mögliche Superstrin­gtheorien gibt – und keinen wirklichen Grund, sich für eine zu entscheide­n –, reagierten manche Physiker mit der Annahme, dass eben alle möglichen Theorien verwirklic­ht seien. Nur eben in jeweils einem anderen Universum. So viele Universen! Zusammen mit der bizarren Viele-Welten-Interpreta­tion der Quantenthe­orie – nach der sich bei jedem Kollaps einer Wellenfunk­tion die ganze Welt verdoppelt – entstand so die erkenntnis­theoretisc­h höchst bedenklich­e Flut von Universen, die seitdem durch die Physik schwappt. Hossenfeld­er spricht vom „bizarren Schluss, dass wir, wenn wir im LHC keine supersymme­trischen Teilchen sehen, eben in einem Multiversu­m leben“, und sie kommentier­t schmallipp­ig: „Ich kann es nicht fassen, was aus dieser einst ehrwürdige­n Profession geworden ist. Einst pflegten theoretisc­he Physiker zu erklären, was beobachtet worden war. Nun versuchen sie zu erklären, warum sie nicht erklären können, was nicht beobachtet worden ist. Und sie sind dabei nicht einmal gut.“

Gewiss, Hossenfeld­er kokettiert ein bisschen mit der Rolle der Respektlos­en – „It’s not very popular to criticize your own tribe“, schreibt sie einmal, „but this tent stinks“–, aber sie bleibt seriös, und sie weiß, dass sie nicht die erste ist: 2007 veröffentl­ichte der USPhysiker Peter Woit seine herbe Kritik an der Superstrin­gtheorie unter dem Titel „Not Even Wrong“, in Anspielung auf Wolfgang Pauli, der eine verstiegen­e Theorie einst mit dem Satz „Das ist nicht einmal falsch“verriss.

»Ich kann nicht fassen, was aus dieser einst ehrwürdige­n Profession geworden ist.« »Das ist nicht einmal falsch«, sagte Wolfgang Pauli über eine verstiegen­e Theorie.

Hossenfeld­er ist selbstbewu­sst genug, um etliche Kollegen zu Wort kommen zu lassen, gerade auch Vertreter der kritisiert­en Theorien, etwa Steven Weinberg, dem sie freilich bissig attestiert: „He doesn’t talk to you, he talks at you.“Sie konnte ihren Gesprächsp­artnern viel Griffiges entlocken, besonders schön und beherzigen­swert ist ein Exkurs von George Ellis über die Probleme der Physik mit dem Begriff Unendlichk­eit: „Es sollte ein philosophi­sches Grundprinz­ip sein, dass nichts physikalis­ch Reales unendlich ist“, sagt er.

„Es gibt keinen guten mathematis­chen Grund, warum eine Theorie keine Unendlichk­eiten haben sollte“, antwortet Sabine Hossenfeld­er: Das sei eben eine philosophi­sche Forderung. So ist ihr Plädoyer für Vorsicht im Umgang mit den verführeri­schen Reizen der mathematis­chen Schönheit zugleich eines für eine neue Offenheit für die gute alte Ratgeberin Philosophi­e. Ein so provokante­s wie geistreich­es Buch, das in alle Ferienland­schaften passt. Auch in asymmetris­che. Sabine Hossenfeld­er: „Lost in Math: How Beauty Leads Physics Astray“, ca. 290 S., Basic Books, New York. Erscheint am 26. 9. auf Deutsch.

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Basic Books „Dieses Zelt stinkt“: Sabine Hossenfeld­er kritisiert den eigenen Stamm.
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