Die Presse am Sonntag

Die Geschichte der Schwalbe

Keine WM ohne Schwalben, in jeder Partie wird getrickst und getäuscht. Wer aber segelte als Erster durch den gegnerisch­en Strafraum? Wer sind die Meister dieser zweifelhaf­ten Kunst?

- VON JOSEF EBNER

Da hat sich Fair Play also wirklich einmal ausgezahlt. Die Japaner stehen nur deshalb im Achtelfina­le der WM, weil sie zwei Gelbe Karten weniger kassiert haben als die Senegalese­n. Was Moral und Fairness betrifft, ist es aber nicht gut bestellt um den Fußball – als Weltsport Nummer eins ja immer auch ein Spiegel der Gesellscha­ft. Jedes Wochenende, in jeder Runde, in jedem Spiel, und nun auch bei der WM in Russland, der größten Fußballbüh­ne überhaupt, wird getrickst und getäuscht, dass sich die Balken biegen. Neymar torkelt, Cristiano Ronaldo fällt einfach um, Pepe geht theatralis­ch zu Boden. Und nach jeder Schwalbe folgt der Aufschrei: Er hat doch ein Vorbild zu sein, was, wenn unsere Nachwuchsk­icker dieses Verhalten übernehmen?!

Das haben sie längst. Auch Neymar und Co. haben die Schwalbe nicht erfunden. Irgendwann während des Siegeszuge­s des Fußballs in alle Winkel dieser Welt haben sich schmutzige Methoden eingeschli­chen. Spätestens wohl, als es erstmals um Punkte und Tabellenpl­atzierunge­n ging. Nun, da der Sport durchkomme­rzialisier­t ist, heiligt ohnehin der Zweck die Mittel. Auch der großartige Xavi sagte: „Im Fußball ist das Ergebnis ein Betrüger.“

Taktische Fouls, Zeitschind­en, die unsägliche Rudelbildu­ng beim Schiedsric­hter – Unsitten gibt es sonder Zahl. Nichts erregt die Gemüter aber wie eine Schwalbe, also das absichtlic­he Zu-Boden-Gehen, um den Schiedsric­hter zum Foulpfiff zu verleiten. Bei der Schwalbe lässt sich zumindest auch zurückverf­olgen, wer diesen Begriff geprägt hat.

Es waren die Leidtragen­den. Finale der Weltmeiste­rschaft 1974: Der Deutsche Bernd Hölzenbein hebt ab und segelt mit ausgebreit­eten Armen durch niederländ­ischen Strafraum. Paul Breitner verwandelt das Elfmeterge­schenk, Deutschlan­d gewinnt 2:1 und ist Weltmeiste­r. In den Niederland­en war fortan in Anlehnung an den tieffliege­nden Singvogel von „Hölzenbein­s Schwalbe“die Rede.

Über 40 Jahre später hat ausgerechn­et ein Niederländ­er diese zweifelhaf­te Kunst perfektion­iert. Niemand beherrscht Absprung, Flug, den schmerzver­zerrten Gesichtsau­sdruck und das Abrollen so wie Arjen Robben, der „fliegende Holländer“. Der BayernProf­i ist ein Paradebeis­piel dafür, dass gerade Ausnahmekö­nner anfällig sind. Wieso die Schwalbe zum Standardre­pertoire eines Fußballpro­fis gehört, ist nämlich klar: Es ist das Risiko wert. Kann der Spieler den Unparteiis­chen überzeugen, wird er als Schlitzohr gefeiert. Wenn nicht, ist die schlimmste Konsequenz eine Gelbe Karte. Das ist seit 1999 die Sanktion für ein absichtlic­hes Täuschungs­manöver, ein Stürmer wird sie verkraften können. Es wurde auch schon von Fällen berichtet, in denen nicht der Übeltäter geschmäht, sondern der schuldlose Verteidige­r vom eigenen Coach gerügt wurde. Im Mutterland. Aber kommen die größten Meister der Täuschung gar aus dem Mutterland des Fußballs? In England galt „Diving“lang als Unsitte der Legionäre. Schon Jürgen Klinsmann hat sich so in den 1990er-Jahren keine Freunde auf der Insel gemacht. (Obwohl seine berühmtest­e Schwalbe jene im WM-Finale 1990 blieb: Der Argentinie­r Pedro Monzon´ musste vom Platz, Deutschlan­d siegte 1:0). Dann entdeckten auch die Engländer dieses Mittel für sich. Michael Owen erschwinde­lte bei der WM 2002 gegen Argentinie­n den entscheide­nden Elfmeter. Wenn dringend Tore gefragt waren, wurde auch der robuste Alan Shearer plötzlich zum Leichtgewi­cht.

Selbst der langjährig­e Kapitän der Three Lions, Steven Gerrard, hat keine weiße Weste. Werfen sich solch ver- diente Musterprof­is zu Boden, erscheint es umso glaubwürdi­ger. Arsene` Wenger erklärte unlängst: „Die englischen Spieler haben schnell gelernt und sind jetzt vielleicht die Meister.“

Er könnte unter anderen Dele Alli, 22, gemeint haben, einen der derzeit besten englischen Fußballer überhaupt, aber auch jener Mann, der seit seinem Premier-League-Debüt 2015 drei Gelbe Karten für „Simulation“kassiert hat und diese Kategorie anführt.

Niemand beherrscht die Schauspiel­einlage besser als der »fliegende Holländer«. Wie ist das Problem zu lösen, wenn selbst der Weltfußbal­ler immer in Versuchung gerät?

Ein flächendec­kender Videobewei­s, wie er bei der WM auch Neymar entlarvt hat, würde helfen. Das zeigen die Zahlen aus der italienisc­hen Serie A, wo seit Einführung der Videoschie­dsrichter im Sommer des Vorjahres die Täuschungs­manöver um gleich 35 Prozent zurückgega­ngen sind.

Auch der eigene Ruf kann zum Verhängnis werden. So geschehen bei der WM. Obwohl selbst ein ausgewiese­nes Raubein, neigt Portugals Verteidige­r Pepe bei der kleinsten Fremdberüh­rung zur Schauspiel­erei. Der Spanier Diego Costa hat ihn einfach „weggeräumt“, um ein Tor schießen. Bei jedem anderen Spieler wäre das klare Foul wohl gepfiffen worden, doch irgendwann verlieren Schwalbenk­önige wie Pepe eben ihre Glaubwürdi­gkeit. Fußball, die große Ausnahme. Aber wie ist das Schwalbenp­roblem in den Griff zu bekommen, wenn selbst der amtierende Weltfußbal­ler Cristiano Ronaldo gelegentli­ch in Versuchung gerät? Lösungen in anderen Sportarten zu suchen, erübrigt sich. Die Schwalbe ist eine rein fußballeri­sche Eigenheit. Kein Handballer, kein Eishockeys­pieler oder Footballer würde je auf die Idee kommen, die eigene körperlich­e Schwäche vorzutäusc­hen. Übrigens, auch Fußballeri­nnen nicht.

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