Die Achse der Thrilligen
Ein Sommer ohne gute Krimis ist keiner. In diesem Jahr ist die Auswahl besonders fein: vom Meister der Manipulation, Dan Chaon, über Vergangenheitsbewältigung auf Japanisch bis zu englischen Krimi-Klassikern.
Nirgendwo fürchtet und gruselt es sich besser als im Urlaub. Da hat man Zeit und Muße, gründlich in politische und seelische Abgründe abzutauchen und den Bodensatz des menschlichen Daseins zu erforschen. Und doch – wenn man die Luft schnappt, die einem gerade weggeblieben ist, ist der Himmel noch immer blau (oder grau), die Hängematte schaukelt träge und die Welt ist in Ordnung. Dan Chaon hat mit „Der Wille zum Bösen“einen der vielschichtigsten und Furcht einflößendsten Krimis des Jahres geschrieben. In Ohio ertrinken junge Männer unter mysteriösen Umständen. Der Psychologe Dustin Tillmann wird durch seinen undurchsichtigen Patienten Aqil Ozorowski immer tiefer in die Ermittlungen hineingezogen. Gleichzeitig muss er sich damit auseinandersetzen, dass sein Adoptivbruder Rusty gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Rusty soll 27 Jahre zuvor Tillmanns Familie ermordet haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen? Dan Chaon verzichtet auf jeglichen Aktionismus, seziert brillant die Desintegration von Menschen, verwischt Realität und Fantasie und liefert als Draufgabe ein bestechendes Porträt des HillbillyAmerika, das Trump gewählt hat. Es ist 2088. Galahad Singh arbeitet als Quästor, eine Art Privatdetektiv der Zukunft, in London – unter erschwerten Arbeitsbedingungen: Neuartige Technologien wie Holonets und Mind Uploading machen es den Menschen einfacher denn je, die Identität zu wechseln und zu verschwinden. „Hologrammatica“des deutschen Autors Tom Hillenbrand überzeugt. Bei allem modernen Schnickschnack bleiben die existenziellen Fragen nämlich gleich: Wer bin ich? Wer bist du? Und was macht es mit uns, wenn wir anders sind, als uns alle wahrnehmen? Ein spannender Blick in eine Zukunft, in der das beliebteste Migrationsziel der Welt Sibirien heißt. Obwohl „Thriller“auf dem Cover des Buches steht, ist kein rasanter Pageturner aus dem fiebrigen Großstadtdschungel Japans. Die Spannung entsteht mit anderen Mitteln. Hinter einer Mauer von Höflichkeit bleibt vieles verborgen. Mikami, Pressedirektor eines kleinen japanischen Polizeireviers, muss sich auf 750 Seiten durch ein privates und berufliches Minenfeld lavieren. Autor Hideo Yokoyama porträtiert das moderne Japan und nimmt den Leser auf eine faszinierende Reise in eine fremde Welt mit. Katrine Engbergs „Krokodilwächter“wurde in Dänemark auf Anhieb ein Erfolg. In einem kleinen Mietshaus in Kopenhagen wird ein junges Mädchen brutal ermordet. Das ungleiche Ermittlerduo Jeppe Kørner und Anette Werner stellt auf den zweiten Blick fest, dass die Tat gruselige Parallelen zu einem Krimi aufweist, an dem die Hausbesitzerin Esther di Laurenti arbeitet. Als auch ein zweiter junger Mensch aus di Laurentis Umfeld stirbt, ist klar, dass die ehemalige Literaturdozentin der Angelpunkt der Verbrechen ist. Spannende Krimi-Unterhaltung um die Schuld von Eltern und die Rache der Kinder. Ermittler Hal Challis muss sich in „Leiser Tod“mit einem heiklen Fall herumschlagen: Ein Vergewaltiger in Polizeiuniform sorgt im australischen Buschland für Schrecken. Doch der australische Autor Garry Disher begnügt sich nicht mit der Polizistensicht, er lässt den Leser die Welt auch durch die Augen einer Profi-Einbrecherin sehen. Beide Erzählstränge lesen sich spannend und glaubwürdig, aber vor allem wie Disher diese verknüpft und auflöst, ist einfach große Klasse. „Leiser Tod“gilt unter Disher-Kennern als sein bester Krimi bisher. Andrew J. Rush ist ein erfolgreicher Schriftsteller. Mit einem Geheimnis: das Pseudonym Pik-Bube, unter dem er nachts und wie im Rausch Schundliteratur schreibt. Als Rush eine Plagiatsklage ins Haus flattert, verliert er die Kontrolle über sein Alter Ego. „PikBube“von Joyce Carol Oates ist eine bewusste Hommage an Stephen King, beruht aber auf einer wahren Begebenheit aus dem Leben der Autorin. Ein ebenso spannender wie amüsanter Simultan-Ausflug in verschiedene Genres der Krimiliteratur.