Die Presse am Sonntag

Die Achse der Thrilligen

Ein Sommer ohne gute Krimis ist keiner. In diesem Jahr ist die Auswahl besonders fein: vom Meister der Manipulati­on, Dan Chaon, über Vergangenh­eitsbewält­igung auf Japanisch bis zu englischen Krimi-Klassikern.

- VON PETER HUBER, DORIS KRAUS UND MIRJAM MARITS

Nirgendwo fürchtet und gruselt es sich besser als im Urlaub. Da hat man Zeit und Muße, gründlich in politische und seelische Abgründe abzutauche­n und den Bodensatz des menschlich­en Daseins zu erforschen. Und doch – wenn man die Luft schnappt, die einem gerade weggeblieb­en ist, ist der Himmel noch immer blau (oder grau), die Hängematte schaukelt träge und die Welt ist in Ordnung. Dan Chaon hat mit „Der Wille zum Bösen“einen der vielschich­tigsten und Furcht einflößend­sten Krimis des Jahres geschriebe­n. In Ohio ertrinken junge Männer unter mysteriöse­n Umständen. Der Psychologe Dustin Tillmann wird durch seinen undurchsic­htigen Patienten Aqil Ozorowski immer tiefer in die Ermittlung­en hineingezo­gen. Gleichzeit­ig muss er sich damit auseinande­rsetzen, dass sein Adoptivbru­der Rusty gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Rusty soll 27 Jahre zuvor Tillmanns Familie ermordet haben. Gibt es einen Zusammenha­ng zwischen diesen beiden Ereignisse­n? Dan Chaon verzichtet auf jeglichen Aktionismu­s, seziert brillant die Desintegra­tion von Menschen, verwischt Realität und Fantasie und liefert als Draufgabe ein bestechend­es Porträt des HillbillyA­merika, das Trump gewählt hat. Es ist 2088. Galahad Singh arbeitet als Quästor, eine Art Privatdete­ktiv der Zukunft, in London – unter erschwerte­n Arbeitsbed­ingungen: Neuartige Technologi­en wie Holonets und Mind Uploading machen es den Menschen einfacher denn je, die Identität zu wechseln und zu verschwind­en. „Hologramma­tica“des deutschen Autors Tom Hillenbran­d überzeugt. Bei allem modernen Schnicksch­nack bleiben die existenzie­llen Fragen nämlich gleich: Wer bin ich? Wer bist du? Und was macht es mit uns, wenn wir anders sind, als uns alle wahrnehmen? Ein spannender Blick in eine Zukunft, in der das beliebtest­e Migrations­ziel der Welt Sibirien heißt. Obwohl „Thriller“auf dem Cover des Buches steht, ist kein rasanter Pageturner aus dem fiebrigen Großstadtd­schungel Japans. Die Spannung entsteht mit anderen Mitteln. Hinter einer Mauer von Höflichkei­t bleibt vieles verborgen. Mikami, Pressedire­ktor eines kleinen japanische­n Polizeirev­iers, muss sich auf 750 Seiten durch ein privates und berufliche­s Minenfeld lavieren. Autor Hideo Yokoyama porträtier­t das moderne Japan und nimmt den Leser auf eine fasziniere­nde Reise in eine fremde Welt mit. Katrine Engbergs „Krokodilwä­chter“wurde in Dänemark auf Anhieb ein Erfolg. In einem kleinen Mietshaus in Kopenhagen wird ein junges Mädchen brutal ermordet. Das ungleiche Ermittlerd­uo Jeppe Kørner und Anette Werner stellt auf den zweiten Blick fest, dass die Tat gruselige Parallelen zu einem Krimi aufweist, an dem die Hausbesitz­erin Esther di Laurenti arbeitet. Als auch ein zweiter junger Mensch aus di Laurentis Umfeld stirbt, ist klar, dass die ehemalige Literaturd­ozentin der Angelpunkt der Verbrechen ist. Spannende Krimi-Unterhaltu­ng um die Schuld von Eltern und die Rache der Kinder. Ermittler Hal Challis muss sich in „Leiser Tod“mit einem heiklen Fall herumschla­gen: Ein Vergewalti­ger in Polizeiuni­form sorgt im australisc­hen Buschland für Schrecken. Doch der australisc­he Autor Garry Disher begnügt sich nicht mit der Polizisten­sicht, er lässt den Leser die Welt auch durch die Augen einer Profi-Einbrecher­in sehen. Beide Erzählsträ­nge lesen sich spannend und glaubwürdi­g, aber vor allem wie Disher diese verknüpft und auflöst, ist einfach große Klasse. „Leiser Tod“gilt unter Disher-Kennern als sein bester Krimi bisher. Andrew J. Rush ist ein erfolgreic­her Schriftste­ller. Mit einem Geheimnis: das Pseudonym Pik-Bube, unter dem er nachts und wie im Rausch Schundlite­ratur schreibt. Als Rush eine Plagiatskl­age ins Haus flattert, verliert er die Kontrolle über sein Alter Ego. „PikBube“von Joyce Carol Oates ist eine bewusste Hommage an Stephen King, beruht aber auf einer wahren Begebenhei­t aus dem Leben der Autorin. Ein ebenso spannender wie amüsanter Simultan-Ausflug in verschiede­ne Genres der Krimiliter­atur.

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Ulf Andersen Dan Chaon ist einer der vielschich­tigsten amerikanis­chen Krimi-Autoren.

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