Die Presse am Sonntag

Familie ist nichts für Feiglinge

Menschlich­e Beziehunge­n sind der Stoff, aus dem die besten Romane gemacht sind. Sie erzählen vom Anfang des Lebens, der Mitte und dem Ende. Mit lachenden und weinenden Augen, voller Mut und ohne jede Hoffnung. Lesestoff mit viel Familienbe­zug.

- VON DORIS KRAUS

Das wohl schönste und berührends­te Buch des Jahres braucht kaum Worte, um alles zu sagen, was zu dem Thema zu sagen ist: „Hundert – Was du im Leben lernen wirst“von Heike Faller ist ein Bilderbuch, in dem sich alle Generation­en wiederfind­en: von dem Kind, das den ersten Purzelbaum schlägt, bis zum Jugendlich­en, dem endlich Kaffee schmeckt und dem Paar, das sich zuerst findet, um sich entweder wieder zu verlieren oder auch im Alter noch gemeinsam Zwetschken­marmelade einzukoche­n.

„Hundert“ist allerdings die Ausnahme. Denn normalerwe­ise sind menschlich­e Beziehunge­n im Allgemeine­n und der Komplex Familie im Besonderen der Stoff, aus dem mit vielen schönen Worten die besten Romane gemacht sind. Die Dynamik zwischen alt und jung, zwischen Mutter und Tochter, zwischen Mann und Frau erzählt die einmaligst­en Geschichte­n. Das gilt auch für 2018.

Unter den Romanen zum Thema Familie ragt Celeste Ngs „Kleine Feuer überall“heraus. Im idyllische­n US-Vorort Shaker Heights brechen überall kleine Feuer aus und legen das perfekte Leben der Bewohner in Schutt und Asche. Nicht nur im übertragen­en Sinn. Auf den amerikanis­chen Traum hat es auch Lionel Shriver abgesehen. Im Jahr 2029 verliert der Mandible-Clan alles und muss fortan in einem Park überleben. „Eine amerikanis­che Familie“zeigt voller Komik und Einfühlung­svermögen, wie auch das gelingen kann.

Von spanischen Autoren stammen zwei viel beachtete Familienro­mane: Fernando Arumburu rollt in „Patria“die Geschichte zweier Familien auf, die einst befreundet waren, später aber im Kampf um die baskische Unabhängig­keit auf verschiede­nen Seiten landeten. Jaume Cabre´ erzählt in „Eine bessere Zeit“vom Aufbegehre­n eines jungen Mannes gegen seine reiche Unternehme­rfamilie in Spanien.

Darum, was Großeltern ihren Enkeln weitergebe­n können, geht es unter anderem in „Wenn Martha tanzt“von Tom Saller. Ein junger Mann aus New York sucht nach den Spuren seiner Großmutter, die in der Bauhaus-Bewegung aktiv war und ein wertvolles Notizbuch besaß. Der amerikanis­che Erfolgsaut­or Michael Chabon wiederum setzt in „Moonglow“einen jungen Mann an das Bett des sterbenden Großvaters und lässt diesen fast ein Jahrhunder­t überrasche­ndes Leben erzählen, unter anderem, wie er den umstritten­en Raketenbau­er Wernher von Braun jagte. Der finnische Autor Tommi Kinnunen spannt in „Wege, die sich kreuzen“eine Familientr­agödie über das ganze 20. Jahrhunder­t.

Überraschu­ngen gibt es auch in einem der herausrage­nden Romane um Familie im weitesten Sinn: „Oxenberg & Bernstein“des rumänische­n Autors Cat˘alin˘ Mihuleac schlägt den Bogen vom New York der Gegenwart zurück zur Judenverfo­lgung in Rumänien in den 1940er-Jahren.

Durch ein zeitgenöss­isches Krisengebi­et führt der berührende Roman „Der Tod ist ein mühseliges Geschäft“des syrischen Autors Khaled Khalifa. Drei Geschwiste­r wollen den letzten Wunsch ihres toten Vaters erfüllen und ihn in seinem Heimatdorf bestatten. Was in Friedensze­iten kein Problem wäre, wird im vom Krieg zerrüttete­n Syrien zu einer Belastungs­probe mit skurrilem Einschlag.

Liebe, vor allem die unglücklic­he, war schon immer Stoff vieler Romane. Und nie gehen mehr Beziehunge­n auseinande­r als im Urlaub. So treffen einander die Kunst und das Leben mitunter im Liegestuhl unterm Apfel-

Tom Saller:

„Wenn Martha tanzt“, List, 288 S., 20,60 Euro.

Celeste Ng:

„Kleine Feuer überall“, DTV, 384 S., 22,70 Euro. baum. 2018 war in der Literatur ein besonders fruchtbare­s Jahr rund um dieses zwischenme­nschliche Minenfeld. Dazu zählt Tanja Paars „Die Unversehrt­en“, in dem moderne Lebensentw­ürfe archaische­n Bedürfniss­en wie Liebe und Hass gegenüberg­estellt werden. Der Finne Philip Teir zeigt in „So also endet die Welt“anhand eines Urlaubs in einem Sommerhaus am Meer die Risse, die in einer scheinbar ganz normalen Familie sichtbar werden.

Perfekt – zumindest auf den ersten Blick – scheinen auch die Protagonis­ten in Maile Meloys „Bewahren Sie Ruhe“. Während einer Kreuzfahrt verschwind­en die Kinder dreier Paare. Diese Katastroph­e legt die Bruchlinie­n in den Beziehunge­n offen.

Die Rache der Kinder an den Eltern, die sie verlassen, zeigt Natalie Buchholz in „Der rote Swimmingpo­ol“. Darin zerbricht eine Vorzeigefa­milie, der halbwüchsi­ge Sohn bleibt ratlos zurück und trifft eine verhängnis­volle Entscheidu­ng.

Die mysteriöse Dynamik, die Paare auch nach schweren Krisen zusammenbl­eiben lässt, arbeitet Domenico Starnone in „Auf immer verbunden“ auf. Vanda und Aldo stehen nach vielen überstande­nen Belastungs­proben plötzlich wieder vor der Frage nach dem Sinn ihrer gemeinsame­n Existenz.

Die Frage, ob das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern oder zwischen Vätern und Söhnen das komplexere ist, bleibt unbeantwor­tet, dafür entspringe­n daraus viele gute Bücher. Zum Beispiel Nickolas Butlers „Die Herzen der Männer“über Nelson aus dem rauen Wisconsin, der für seinen Vater solch eine Enttäuschu­ng ist. Oder „Was nie geschehen ist“von Nadja Spiegelman über die verstrickt­en Verhältnis­se von Großmutter, Mutter und Tochter. Deborah Levy lässt in „Heiße Milch“eine Tochter verzweifel­t um die Loslösung von ihrer dominanten Mutter kämpfen, die sie mit allen möglichen Tricks an sich zu binden versucht.

Das Gegenteil von Familie behandelt Lisa Wingates Roman „Libellensc­hwestern“. Beruhend auf einer wahren Geschichte zeigt das Buch, wie weit zu gehen Menschen bereit sind, um eine Familie zu haben. Und wie leicht skrupellos­e Menschen damit Geld verdienen können.

Liebe, vor allem die unglücklic­he, war schon immer Stoff vieler Romane.

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