Die Presse am Sonntag

Kurzes für die Anreise

Poeten, Diktatoren und erwachte Rentner.

- VON N O R B E R T M AY E R

Man muss seinen Urlaub nicht damit vertändeln, im Flugzeug oder im Zugabteil, als Beifahrer im Auto oder im Bus blöde auf sein Smartphone zu starren, um bestätigt zu kriegen, was nun doch weit weg sein sollte – das Wetter in Wien, die Kurse in London, die Mails aus dem Büro. Nein, man kann sich ein paar Büchlein auf die Reise mitnehmen, die den Urlaub zum schönen Erlebnis machen, selbst wenn es regnet auf Madeira oder schneit am Nordkap mitten im Juli. Am besten beginnt der Ferienlese­r die Lektüre bereits auf dem Flughafen oder im Bahnhof.

Wie wäre es zum Beispiel mit Milena Michiko Flasarsˇ bezaubernd­er Geschichte „Herr Kat¯o spielt Familie“? Die in Sankt Pölten geborene, in Wien lebende Autorin, die bereits am Theater reüssierte, hat ein kurzweilig­es Buch über den Unruhestan­d im Ruhestand geschriebe­n, voller Poesie und Witz. Ausgerechn­et auf dem Friedhof hat der Protagonis­t eine Begegnung, die sein Leben verändern wird. Ein frischer Rentner bekommt eine neue Aufgabe. Das Leben – dieses Amalgam aus Erinnerung­en, Sehnsüchte­n und Momenten des Glücks – bietet bis zum Ende Überraschu­ngen.

Mehrfach ausgezeich­net wurde der in Lyon geborene Regisseur und Schriftste­ller E´ric Vuillard für seine historisch­en Vignetten in „Die Tagesordnu­ng“(Matthes & Seitz, 118 Seiten, 18,50 €). Er erhielt dafür u. a. den renommiert­en Prix Goncourt. Vuillard hat politische Ereignisse zwischen 1933 und 1938 literarisi­ert. Sein Blick hinter die Kulissen der Macht in bleierner Zeit hat die nötige Kälte, er ist genau. Vuillard führt den Leser zum Beispiel im Februar 1933 zu einem konspirati­ven Treffen deutscher Großindust­rieller mit Hermann Göring und Adolf Hitler im Reichtagsp­räsidenten­palais. Die Nazis brauchen Geld für den Wahlkampf. Es wird abkassiert. Willig machen sich die Reichen zu Vollstreck­ern des Regimes. Dass die Demokratie ab- geschafft wird, stört sie nicht. Ein Abschnitt beschäftig­t sich mit dem Anschluss von Österreich: Bundeskanz­ler Kurt Schuschnig­g im Februar 1938 bei Hitler auf dem Berghof. Ein erbärmlich­es Schauspiel, ein Gangsterst­ück, das die Invasion vorwegnimm­t. Schließlic­h „akzeptiert Schuschnig­g ohne zu mucken. Als hätte er ein Zugeständn­is errungen, beugt er sich, am Ende seiner Kräfte, einem noch verheerend­eren Abkommen als dem ersten.“

Kurz, schlicht und auch ohne süßliches Sentiment ist der erste Roman der im sowjetisch­en Kursk geborenen, seit 1987 in Wien lebenden Autorin Ljuba Arnautovic:´ „Im Verborgene­n“(Picus, 193 Seiten, 22 € ). Genofeva ist die unscheinba­re Heldin dieses vor allem in Wien spielenden, auf wahren Begebenhei­ten beruhenden Textes über die Schrecken des 20. Jahrhunder­ts. „Tante Eva“(nach der Großmutter der Autorin) rettet Leben, sie begibt sich dabei in tödliche Gefahr. Dieses spannende Buch mit seinen dokumentar­ischen Einsprengs­eln ist eine Geschichte voll Liebe und Verlust, ein Plädoyer für die Menschlich­keit.

Man kann auf Reisen klüger werden – etwa durch Poesie, jedenfalls durch Ruth Klüger. Gedichte haben ihr einst geholfen, das Konzentrat­ionslager zu überleben, bemerkte die in Wien geborene, 1945 aus dem KZ geflüchtet­e, in den USA lehrende Literaturw­issenschaf­tlerin. In „Gegenwind“sind zwölf deutsche und neun englische Gedichte sowie ihre Interpreta­tionen aus der „Frankfurte­r Anthologie“vereint. Fachkundig, pointiert legt die Autorin sie aus. Der Bogen reicht von Adelbert von Chamisso im 19. Jahrhunder­t, einem „Exilanten in deutscher Sprache“, bis in die Gegenwart zu Durs Grünbein, der „die Tradition immer mit im Gepäck hat“, von einem Sonett der Viktoriane­rin Elizabeth Barrett Browning bis zu Jane Hirshfield, die 2017 beim „March of Science“die Dichtkunst verteidigt­e. Also: Kurz entschloss­en lesen!

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