Der Wallraff von 1900
Der Journalist Max Winter schrieb vor hundert Jahren packende Sozialreportagen über das Elend der Wiener Unterschicht.
Die inoffizielle Realität der k. u. k. Residenzstadt Wien in der Zeit um 1900 sah anders aus, als wir es aus Salondarstellungen und Klimt-Bildern kennen. Dem Journalisten Max Winter verdanken wir einen Einblick in die tristen Lebensverhältnisse der Obdachlosen und Außenseiter. Winter ließ sich, als Sandler verkleidet, ins Polizeigefängnis werfen, arbeitete als Kulissenschieber im Theater, ging in die Fabriken, in die Männerheime, von „ganz unten“, um ein Buch des gut 80 Jahre später schreibenden Deutschen Günter Wallraff zu zitieren, wollte er das Leben der Deklassierten beschreiben. Seine Artikel wurden Expeditionen in unbekannte Welten.
Max Winter arbeitete für die „Arbeiter-Zeitung“, war für das „Rote Wien“politisch tätig, doch alles andere als ein Schreibtischrevoluzzer. Er schuf gleichsam im Alleingang die Form der Sozialreportage, die durch die Schilderung der menschlichen Lebensumstände das ganze unmenschliche Sozialsystem an den Pranger stellte. So stieg er mit den Kanalsandlern ins Wiener Kanalnetz hinab und führte dort mit ihnen den ständigen Kampf gegen die Wanzen und Läuse, er schlief mit den Obdachlosen im Winter im Freien.
Seine Reportagen erfüllen die qualitativen Standards eines guten Journalisten, er arbeitete auch mit Akten und Statistiken und untermauerte damit seine unkonventionellen Vor-Ort-Recherchen. Großartig, dass der PicusVerlag nun unter dem Titel „Expeditionen ins dunkelste Wien“eine umfangreiche Sammlung der Artikel von Max Winter vorlegt. Eine Empfehlung!