Ein zeitlich begrenztes Volksfest
Die Fußball-Weltmeisterschaft war von Anbeginn an ein Herrschaftsprojekt des Kreml. Dass die Bürger nun mitjubeln, ist großartig – und ein Geschenk für Wladimir Putin. Hinter den Kulissen werden Regierungskritiker weiter verfolgt.
Die Nation ist versammelt, im Stadion, vor den Fernsehschirmen, und nur ein Mann tut so, als ginge ihn das alles nichts an. Dabei hat Russland ihm doch diese WM zu verdanken: Präsident Wladimir Putin ist bei der Weltmeisterschaft sonderbar abwesend. Das gestrige Match gegen Kroatien in seinem geliebten Kurort Sotschi schwänzte er genauso, wie den Triumph gegen Spanien und den Überraschungserfolg gegen Ägypten, bei dem er auf Dienstreise in Belarus weilte.
Nur das müde Eröffnungsspiel gegen Saudiarabien verfolgte er im Moskauer Luschniki-Stadion, jener Arena, in der er selbst noch vor ein paar Monaten um die Gunst der Russen geworben hatte: als offizieller Kandidat für das Präsidentenamt, flankiert von russischen Sportstars und ohne einen richtigen Widersacher. Für Putin war die Wiederwahl ins Präsidentenamt ein Heimspiel. Doch der sportliche Erfolg der Sbornaja ist weniger vorhersehbar, und das war wohl der Grund, warum Putin bei den Spielen stets fehlte. Ein Präsident, der die Niederlage seines Teams im Stadion mit ansehen muss, macht keine gute Figur.
Doch auch wenn der russische Präsident der große Abwesende dieser WM ist, scheint seine Rechnung aufzugehen: Der Ballsport eint Russland. Zuletzt hielten bereits 56 Prozent ein Aufrücken der Nationalmannschaft in das Halbfinale für möglich – Zustimmungswerte, die die Sbornaja in die Nähe jener des Kreml-Chefs rücken. Ein Adler namens Akinfejew. Nach dem Überraschungstriumph des Nationalteams gegen Spanien befand sich das ganze Land im Freudentaumel. Vor der Weltmeisterschaft galten die Männer der Sbornaja als überbezahlte, mittelmäßige Spieler. Nunmehr sind sie zu Nationalhelden geworden. Über die Errichtung von Denkmälern zu ihren Ehren wird debattiert. Der Moskauer Zoo benannte einen jungen Steppen- adler zu Ehren des Torhüters Igor Akinfejew. Der hatte im Achtelfinale im Elferschießen zwei Schüsse der Spanier gehalten und dem Gastgeber so den Einzug ins Viertelfinale gesichert. Der Zoo begründete die Benennung mit „blitzschnellen Reaktionen und einem scharfen Blick“. Internet-Memes sind im Umlauf, die Akinfejew als mehrarmige hinduistische Gottheit zeigen, an der garantiert kein Ball vorbeigeht. Das ganz auf Verteidigung konzentrierte Spiel der Russen wird frenetisch zur Siegesoffensive umgedeutet. Ein Spiel wie im „Bol´ero“. War vorher der Chor der Kritiker an der auf dem 70. Platz der Weltrangliste stehenden Sbornaja und Cheftrainer Stanislaw Tschertschessow erdrückend laut, will nun der Chor der Lobhudler nicht mehr aufhören: Der Konzertpianist Denis Mazujew verglich das Spiel der Mannschaft mit dem sich allmählich steigernden Orchesterstück „Bolero“´ von Maurice Ravel. In den Talkshows der vom Kreml kontrollierten Sender gibt es kein heißeres Thema als die Unterstützung der Sbornaja als patriotische Bürgerpflicht und die nicht enden wollende Russland-Begeisterung der ausländischen Besucher. Die ansonsten staubtrockene Staatszeitung „Rossijskaja Gaseta“sprach frenetisch von einem „Wunder“. Und KremlSprecher Dmitrij Peskow kamen angesichts des öffentlichen Jubels nach dem Spanien-Triumph die Siegesfei- ern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Sinn. Was er in den Straßen Moskaus gesehen habe, „ähnelt vielleicht in mancherlei Hinsicht den Berichten vom 9. Mai 1945“, sagte Peskow.
Dass das unerwartet gute Abschneiden ein Grund zum Feiern ist, darüber sind sich ausnahmsweise sogar politische Feinde – Vertreter der Kreml-Elite und der Opposition – einig. In einem Tweet erklärte das Nationalteam: „Freunde! Wir haben das für unser Land getan! Wir haben das für euch getan! Danke für die Unterstützung!“Angefeuert wurden sie von abertausenden Russen auf den Straßen, mit Russlandfahnen und Pelzmützen.
Versucht man den Jubel in Worte zu fassen, dann könnte man sagen: Es ist eine Begeisterung über den ehrlichen Sieg, über die gleichberechtigte Teilnahme an einem fairen Wettkampf der Nationen und die internationale Anerkennung als Hausherr eines wichtigen sportlichen Ereignisses. Anders als bei den Olympischen Spielen in Sotschi, wo die Kritik an dem Großereignis die sportlichen Erfolge der Russen klar übertönte, scheint sich die Welt nun größtenteils mit den Russen zu freuen: Es war keine erwartbare, mit (wie sich später herausstellen sollte) unlauteren Mitteln erzielte sportliche Höchstleistung. Sondern: Ein FußballUnderdog hat sich und andere überrascht. Der patriotische Stolz, den man auf den Straßen spüren kann, hat nichts Revanchistisches an sich, er kommt ohne politische Untertöne aus und ist nicht zum Fürchten. Er triumphiert nicht einmal, er ist in seiner simplen Freude sympathisch. Triumph für den Kreml. Gleichzeitig gilt: Für den Kreml könnte die WM gar nicht besser laufen. War das Fußballevent zuvor reine Chefsache, ein gigantisches Bauprojekt, das Unsummen verschlang, ein weiteres Riesenevent. Nun aber hat die Gesellschaft Feuer gefangen – freiwillig, aus der Eigendynamik des Sportevents, ohne dass die Menschen zu Begeisterung überredet werden mussten.
Das Russland, das man dieser Tage sehen kann, ist grundsympathisch. Ein Land als alternative Version seiner selbst: Es ist so, wie es auch sein könnte. Mit ausgelassenen, alkoholgetränkten Versammlungen in der Öffentlichkeit, ungezwungenen Treffen zwischen In- und Ausländern, hilfsbereiten Zivilisten und Polizisten, die nicht in eigener Sache, sondern im Dienste der Öffentlichkeit unterwegs sind. Repressionen gehen weiter. Die Bürger genießen die Tage in vollen Zügen. Die Mehrheit der Russen weiß sehr wohl, dass sie Teil eines Spektakels ist, das am 16. Juli vorbei sein wird. Bezeichnend ist, dass der Repressionsapparat während der WM im Einsatz ist. In der Teilrepublik Tschetschenien, wo sich Präsident Ramsan Kadyrow als feudaler Gastgeber der ägyptischen Nationalmannschaft inszenierte, hat in dieser Woche ein Gerichtsprozess gegen
Ein Erscheinen im Stadion hält Putin für ein zu großes politisches Risiko. Der Repressionsapparat ist auch während der Weltmeisterschaft im Einsatz.
den dortigen Chef der Menschenrechtsorganisation Memorial begonnen. Ojub Titijew wird Drogenbesitz vorgeworfen; er streitet die Anschuldigungen ab. Ähnlich fragwürdig sind die Anschuldigungen gegen einen Memorial-Vertreter im nordwestrussischen Karelien, wo die Staatsanwaltschaft erneut Anklage gegen Juri Dmitrijew erhoben hat. Ihm wird sexueller Missbrauch seiner Adoptivtochter vorgeworfen. Zuvor war er vom Vorwurf der Kinderpornografie freigesprochen worden. Und in einem Gefängnis im hohen Norden führt der Ukrainer Oleg Senzow seit mehr als 50 Tagen einen Hungerstreik durch. Präsident Putin hat die Chance, ein Zeichen zu setzen und Senzow zu begnadigen, bisher nicht genutzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er es bis zum Ende der Weltmeisterschaft in einer Woche noch tut, ist gering.
So wie der Kreml deutlich macht, dass er keinen politischen Liberalisierungskurs einschlagen wird, so fällt auch die Antwort auf die Frage, ob sich in Russland durch das Sportereignis etwas verändert, ziemlich eindeutig aus: Das wäre zu hoffen, ist aber nicht anzunehmen.