»La famiglia« ist Italiens Fluch
Warum ist Italien bei Produktivität und Wachstum so stark zurückgefallen? Das Rätsel scheint gelöst: Zu viele Firmen sind falsch geführt, weil Beziehungen mehr zählen als Leistung.
Im Jänner wurde es dem Herrn der vereinigten Farben zu bunt: Der 82-jährige Luciano Benetton übernahm wieder das Ruder beim schwer angeschlagenen Modekonzern aus Treviso. Auch seine 80-jährige Schwester Giuliana, meldete der Firmengründer, „strickt jetzt wieder Pullover“. Sohn Alessandro, der den Job an der Spitze nie wollte, hatte sich nicht bewährt. Aber sein Onkel Gilberto mischt weiter mit. Der Konzern schrieb 2017 über 100 Mio. Euro Verlust. Die Konkurrenten – Zara, H&M und Onlinehändler wie Zalando – haben das einst so erfolgreiche Familienimperium vom Markt gedrängt. Da die Hausbanken weiter Kredite vergeben, überlebt man, irgendwie. Aber ertragreich eingesetzt ist das Kapital nicht.
Ein Einzelfall? Nein, ein Symbol und Symptom, behaupten Ökonomen. Sie suchen die Ursachen von Italiens wirtschaftlicher Lethargie nicht mehr in schlechter Politik, fehlenden Reformen oder dem Korsett des Euro, sondern an der Basis der Wertschöpfung. Vor allem größere Unternehmen haben es nicht geschafft, die Chancen der neuen Technologien zu nutzen. Dazu fehlen ihnen die richtigen Leute an der Spitze – weil nicht die Leistung zählt, sondern Beziehungen, Loyalität, Zugehörigkeit. „La famiglia“ist schuld. Es war nicht der Euro. Wie kommt man zu einer so kühnen These? Nach dem Erreger der „italienischen Krankheit“forschten Volkswirte schon lang, aber das Rätsel blieb: Italien sorgte für Europas größtes Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Noch in den Achtzigerjahren lagen die Wachstumsraten über denen von Deutschland und Frankreich. Aber plötzlich fiel die Volkswirtschaft zurück, erst bei der Arbeitsproduktivität, seit der Finanzkrise auch beim BIP-Wachstum. Heute gibt es in Italien, weltweit fast einmalig, nicht mehr Wohlstand als vor zwei Dekaden.
Was wurde dafür nicht alles an Erklärung angeboten! – und alles wieder verworfen. Der Euro sollte schuld sein, weil die Italiener ohne rituelle Lira-Abwertung ihre Waren nicht mehr preislich wettbewerbsfähig halten konnten. Oder die Chinesen, die Europa mit billigen Textilien überschwemmen. Aber es lässt sich zeigen, dass solche externen Schocks den Knick nicht erklären. Also mussten – wie üblich – die Versäumnisse der Politiker herhalten: ein rigider Arbeitsmarkt, ein lahmes Justizsystem, Korruption. Aber das gab es alles schon früher, und der Nachteil gegenüber anderen Staaten hat sich nicht wesentlich vergrößert. So wie auch der Süden des Landes immer schon wirtschaftlich rückständig war. Wirklich geändert hat sich, dass auch der industriell starke Norden Schwäche zeigt.
Das lenkte den Blick auf die Unternehmen. Bald zeigte sich: Die IT-Revolution hat Italiens Firmen am falschen Fuß erwischt. Gerade jene Branchen, die dieser Fortschritt weltweit beflügelte, kommen nicht mehr gut mit. Weil sie zu wenig investieren? Das auch. Aber vor allem schaffen sie es viel schlechter als ausländische Konkurrenten, solche Investitionen gewinnbringend zu nutzen. Sie sind damit im digitalen Zeitalter zu wenig innovativ. Was an den Menschen liegen muss, die in den Büros und Fabriken arbeiten.
Damit geraten die Wissenschaftler aufs dünne Eis der weichen Fakten. Sie nutzen einen großen Datenpool aus Befragungen von Managern in sieben Ländern, darunter Österreich und Deutschland, die auf Firmenebene tiefer blicken lassen. Es zeigt sich: Je stärker in einem Unternehmen nach Leistung entlohnt und befördert wird, desto besser setzt es technologische Innovationen um. Und: In Italien ist der Anteil dieser „meritokratischen“Firmen deutlich geringer als anderswo. Weit öfter sitzen dort Leute auf wichtigen Posten, die zur Eigentümerfamilie gehören oder mit dieser befreundet sind. Egal, ob sie viel wissen und können.
Man ist geneigt, eine solche Vetternwirtschaft im geschützten staatlichen Bereich zu vermuten. Aber im Privatsektor, der dem globalen Wettbewerb ausgesetzt ist, erscheint sie unplausibel, weil irrational. Was aber nicht stimmen muss, wie die Daten zeigen. Man befragt die Führungskräfte nämlich auch danach, was ihre Firma beim Wachsen behindert. Die typische Antwort, überall: finanzielle und büro- kratische Hürden. In den meisten Ländern sind leistungsorientierte Firmen auch hier klar im Vorteil: Wer tüchtig und fähig ist, kommt leichter zu einem Kredit und weiß sich gegen den Übermut der Ämter zu behaupten. In Italien aber zählt oft mehr, wer gute Beziehungen zur Hausbank und den Beamten hat (oder im Extremfall: wer weiß, wen er schmieren muss). Und hier ist im Vorteil, wer lang dabei und gut vernetzt ist: die Familie und ihre Getreuen. Üble Klischees? Das Ergebnis weckt Zweifel, weil es negative Klischees bedient. Waren es nicht genauso Italiener, die früher mit viel Elan und Erfindergeist ihren Standort zu Erfolgen führten? Die Jungen sind ja wohl kaum fauler oder weniger schlau als ihre Großväter. Man kann zwar argumentieren: Der Anteil der Uniabsolventen ist in Italien untypisch niedrig, und für die heute benötigten Fähigkeiten ist eine akademische Ausbildung wichtiger als früher. Dennoch muss es die Talente geben. Wo sind sie? Hier fügen sich zwei Puzzlesteine ein, die das Bild komplettieren: Es gibt sehr wohl hoch produktive Unternehmen, meist Startups. Sie sprühen vor Ideen. Aber sie bleiben klein. Es fehlen ihnen gute Kontakte zu Banken und Investoren.
Das Kapital fließt zu großen, trägen Betrieben, in denen sich die Strukturen über Jahrzehnte verfestigt haben. Es wird also ineffizient verteilt. Das zeigt sich drastisch, wenn Banken maroden Kunden bessere Konditionen bieten als gesunden, damit sie ihre hohen Forderungen nicht abschreiben müssen. „Zombiefirmen“gibt es durch die Niedrigzinsen in ganz Europa. Aber die meisten in einem Land, wo die Banken auf einem Berg von notleidenden Krediten sitzen: in Italien.
Vielleicht ist das Rätsel damit gelöst. Aber was gehen uns die Sorgen der Nachbarn an? Ziemlich viel. Den Mechanismus wies schon 2012 eine Studie nach: Die digitale Revolution führt dort zu stärkerem Produktivitätswachstum, wo man ihre Chancen besser nutzt – in Gesellschaften, wo Leistung mehr zählt. Verglichen wurden damals freilich die EU und die USA. Womit die „italienische Krankheit“nur die extreme Form einer europäischen Malaise wäre. Die Suche nach der richtigen Therapie darf beginnen.
Die Chancen der IT-Revolution werden dort besser genutzt, wo Leistung im Fokus steht.