Die Psychologie des Elfmeters
In der K.-o.-Phase sind Elfmeterschießen in aller Munde. Gibt es den perfekten Penalty? Sind Goalies wirklich chancenlos? Robert Almer, an dem schon Ronaldo gescheitert ist, gibt Auskunft.
Rechenaufgabe gefällig? Der Fußball liegt elf Meter vor der Torlinie und wird vom Schützen auf bis zu 100 km/h beschleunigt. Bis zum Tor braucht er etwa eine halbe Sekunde. Da selbst beim besten Goalie die Reaktionszeit mindestens eine Viertelsekunde beträgt, bleibt nur eine weitere Viertelsekunde, um den Ball zu erreichen. Das Tor ist 7,32 Meter breit, er müsste also mit über 30 km/h durch die Luft fliegen. Das ist schlichtweg unmöglich.
„Wenn du wartest, bis er schießt, und dann reagierst, kommst du nicht hin. Du musst einen Schritt früher dran sein“, erklärt Österreichs ehemaliger Teamgoalie Robert Almer, 34 J., die Elfmetersituation. Einzige Chance: spekulieren und schon vor dem Schuss in die Ecke hechten. So fällt die Reaktionszeit weg, und der Tormann muss nur noch halb so schnell durch die Luft fliegen – und das ist für geübte Profis durchaus möglich.
So sind die Tormänner beim Penalty zwar immer noch klar im Nachteil, aber nicht mehr chancenlos. Denn wie Statistiken zeigen, werden im Schnitt nur drei von vier Elfmetern verwandelt. Dabei müssten es 100 Prozent sein. Ein scharfer Schuss ins Kreuzeck, wie ihn ein Fußballprofi beherrschen sollte, und die obige Rechnerei wäre hinfällig. Oder gab es jemals einen Elfmeter, den der Tormann aus dem Kreuzeck gefischt hat? Zumal der Schütze noch einen weiteren Vorteil hat. „Wenn sich der Torhüter früh bewegt, kann der Spieler das sehen und dementsprechend in die andere Ecke schießen“, erinnert Almer.
Einen Vorteil aber haben die Goalies. „Der Tormann hat eigentlich gar keine Drucksituation. Du kannst im Prinzip nur gewinnen. Wenn du hältst, hast du alles richtig gemacht, wenn nicht, wird auch keiner etwas sagen“, erklärt Almer. „Ich glaube schon, dass für Feldspieler ein Elfmeter von der Psyche und vom Druck her eine außergewöhnliche Situation ist.“Schließlich haben mit Lionel Messi und Cristiano Ronaldo bei dieser WM auch zwei Superstars Nerven gezeigt und je einen Elfer verschossen. Tatsächlich gibt es Auswertungen, die zeigen, dass Starspieler, die hohe Erwartungen zu erfüllen haben, etwas weniger treffsicher sind als „Nobodys“. Die zweite Reihe hat deswegen aber noch niemand in ein Elferschießen geschickt.
„Wenn du im Training ein Elfmeterschießen machst, werden 95 Prozent der Bälle drinnen sein, weil es einfach keinen Druck gibt“, erzählt Almer. „Aber Training und Spiel sind zwei Paar unterschiedliche Schuhe. Im Match ist die Drucksituation für den Spieler eine ganz andere.“
Hinzu kommen womöglich Faktoren wie Müdigkeit, ein ausverkauftes Stadion und Zehntausende pfeifende gegnerische Fans. Die Gegenspieler richten einem auch noch die eine oder andere Boshaftigkeit aus, obwohl die Schiedsrichter angehalten sind, diese Geplänkel zu unterbinden. Und der Tormann rudert wie wild mit den Armen, denn er weiß genau, dass das Auge des Schützen zumindest unbewusst jede dieser Bewegungen fixiert. Der englische Weg. In einer solchen Situation hilft nur eine akribische Vorbereitung, wie es die Engländer bei dieser WM vorgemacht haben. Coach Gareth Southgate hat erklärte, Elferschießen sei definitiv keine Glücksache, und ließ Sportpsychologen anrücken, Listen aufsetzen und jede Menge Penalties trainieren. So hat England im Achtelfinale gegen Kolumbien seinen Fluch beendet. Aufholbedarf hätten auch die Niederlande, die bei WM- und EMEndrunden bisher nur zwei von sieben Elfmeterschießen gewonnen haben. Ganz bitter sieht es bei den Schweizern aus: Die Eidgenossen haben bei der WM 2006 gegen die Ukraine die einzige Penalty-Entscheidung ihrer Turniergeschichte verloren, und zwar ohne dabei auch nur einen Elfmeter verwandelt zu haben.
Für Tormänner gibt es spezielle Trainingseinheiten eigentlich nur vor Wettbewerben, in denen es zu Elfmeterschießen kommen kann, also vor Cupspielen, vor internationalen Partien. Almer, der seine Karriere im Juni auch wegen einer hartnäckigen Knieverletzung beendet hat, ist inzwischen selbst Tormanntrainer beim Bundesligisten Mattersburg. Der Steirer sagt: „Wir werden sicher das eine oder andere Mal Elfmeter trainieren. Aber das wird sich in Grenzen halten.“Obwohl es natürlich Dinge gebe, die zu berücksichtigen seien. „Es wird geschaut, welche Schützen der Gegner hat, welche die bevorzugten Ecken sind. Da kann man schon Statistiken auswerten.“
Tatsächlich erweisen sich Starspieler etwas weniger treffsicher als »Nobodys«. EM 2016, Österreich gegen Portugal, Almer gegen CR7: »Die Chancen waren 50:50.«
Irgendwie muss sich der Goalie schließlich für eine Ecke entscheiden. „Einerseits gibt es die statistischen Informationen, die man im Vorhinein bekommt: Schießt er mit links oder mit rechts? Wie ist die Position beim Anlauf? Bei manchen Spielern lässt sich ein bisschen herauslesen. Aber im Großen und Ganzen entscheidet man dann erst in der Situation.“
So war es auch, als Almer bei der Europameisterschaft 2016 gegen Portugal in der 79. Minute niemand Geringerem als Cristiano Ronaldo gegenübertrat. Der Weltfußballer schoss an die Stange, der österreichische Goalie wurde gefeiert. „Wir haben davor Statistiken angeschaut, und da war es so, dass er zur Hälfte links und zur Hälfte rechts geschossen hat. Die Chancen waren 50:50. Ich bin in die falsche Ecke gegangen, aber er wollte ihn dann halt zu genau schießen.“