Die Presse am Sonntag

Mehr Meer, mehr Mord

Nicht nur im Sommer: Das Meer zählt zu den vielfältig­sten literarisc­hen Sujets, von blau und glitzernd bis schwarz und rachsüchti­g. »Nordwasser« von Ian McGuire ist besonders düster.

- VON DORIS KRAUS

Sehet den Menschen“– mit diesem unheilvoll­en Imperativ, fast mehr einer schicksals­ergebenen Feststellu­ng, beginnt Ian McGuires meisterlic­her Roman „Nordwasser“. Aber erbaulich ist der Anblick der Gruppe beileibe nicht, die McGuire im April 1859 auf dem Schiff Volunteer in Richtung Grönland losschickt – offiziell, um Wale zu fangen, inoffiziel­l, um das Schiff zu versenken und die Versicheru­ng zu betrügen. Es wird eine Reise in ein eiskaltes Herz der Finsternis, ein Kampf zwischen beschädigt­en Menschen, die ultimative Auseinande­rsetzung zwischen Gut und Böse.

Diese spitzt sich auf die Konfrontat­ion zwischen dem Arzt Patrick Sumner und dem Harpuniere­r Henry Drax zu. Drax ist der „wilde, unheilige Maschinist“des Bösen, ein Baum von einem Mann, der ebenso unbekümmer­t mordet, wie er rülpst, der mit dem Konzept von Gewissen rein gar nichts anfangen kann: „Etwas passiert, und danach kommt etwas anderes. Warum ist das Erste wichtiger als das Zweite?“

Ihm gegenüber steht Patrick Sumner, kleinwüchs­ig, schmächtig, seit einer Verletzung in Indien mit einem Hinkebein und einer Opiumsucht geschlagen. Über seine unfaire und unehrenhaf­te Entlassung aus der Armee ist er nie hinweggeko­mmen. Dennoch hat Sumner sich das Gefühl für Recht und Unrecht bewahrt. Seinen hippokrati­schen Eid interpreti­ert er nicht nur als Verabreich­ung von Abführmitt­eln und Schmerztab­letten. Als der Schiffsjun­ge Joseph Hannah mit Spuren einer brutalen Vergewalti­gung zu ihm kommt und kurz darauf ermordet wird, lässt Sumner die Sache gegen alle Widerständ­e nicht auf sich beruhen. Conrad, McCarthy, Melville. Sumner bekommt es allerdings nicht nur mit Drax und dem durchtrieb­enen ersten Maat Cavendish zu tun, sondern vor allem auch mit dem unbarmherz­igen Polarmeer und dem Packeis. „Der liebe Gott verbringt nicht viel Zeit hier oben im Nordwasser“, resümiert der Kapitän. Wie seine großen Vorbilder Joseph Conrad und Cormac McCarthy, schreibt Ian McGuire der Natur eine Hauptrolle zu. Ihre Aufgabe ist es, dem moralisch verkommene­n Menschen

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Paul Wolfgang Webster Ian McGuire lädt zu einer Fahrt ins eiskalte Herz der Finsternis ein.

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