Die vergessenen Flüchtlinge im
In der Zentralafrikanischen Republik tobt ein brutaler Bürgerkrieg. Zehntausende Menschen haben sich in den Tschad in Sicherheit gebracht. Dort kämpfen sie täglich ums Überleben.
Nicola Bertin kann sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er alles verloren hat: seine Häuser, seine Felder, seine Heimat. „Es wurde für uns immer gefährlicher“, berichtet der 62-Jährige. „Wir konnten nicht mehr bleiben.“Erst hatten die bewaffneten Milizen die Hirten überfallen, die mit ihrem Vieh in der Region umherzogen. „Sie raubten ihnen die Rinder. Als sie bei den Hirten nichts mehr holen konnten, kamen sie zu uns.“Immer wieder attackierten die Milizen das Dorf Marcunda. Sie töteten, plünderten, setzten die Häuser in Brand. „Sie ermordeten meinen jüngeren Bruder“, klagt Nicola Bertin. „So viele von uns haben sie umgebracht.“
Am 28. März floh er schließlich mit seiner Familie und seinen Nachbarn aus Marcunda in der Zentralafrikanischen Republik. Sie schlugen sich ins Nachbarland Tschad durch. Dort leben sie jetzt in einer Flüchtlingssiedlung in Gon im Südtschad, 35 Kilometer von der Grenze entfernt. Dutzende Zelte des Flüchtlingshochkommissariats UNHCR reihen sich hier aneinander – wie ein weißes Muster, das auf den braunen, mit hellgrüner Vegetation bedeckten Boden gelegt worden ist.
Rund 1900 Menschen wohnen in der Siedlung. Sie fanden Aufnahme in einem Land, das selbst zu den ärmsten der Welt zählt. Rang 186 nimmt der Tschad im sogenannten Human Development Index ein, der den Wohlstand der Bevölkerung anhand von Indikatoren wie Einkommen, Bildung und Lebenserwartung misst. Das ist der drittletzte Platz aller untersuchten Staaten. 14 Mio. Einwohner hat der Tschad. Zugleich beherbergt er 450.000 Flüchtlinge: Die meisten stammen aus dem Sudan, aus der Krisenregion Darfur. Dazu kommen Nigerianer, die sich vor dem Terror der Jihadistensekte Boko-Haram in Sicherheit gebracht haben, und immer mehr Menschen, die – so wie Nicola Bertin – die Zentralafrikanische Republik verlassen mussten. So wie der Großteil der Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern sind sie auf dem Kontinent geblieben. Nur ein geringer Teil versucht, sich bis in Europäische Union durchzuschlagen.
Nicola Bertin und die anderen Flüchtlinge hier in Gon sind Opfer eines Konflikts, der in Europa weitgehend in Vergessenheit geraten ist – des blutigen Machtkampfs in der Zentralafrikanischen Republik. In ihm mischen zahlreiche bewaffnete Gruppen ebenso mit wie der einstige Kolonialherr Frankreich. Verbrechen an Zivilisten. Seit Anfang der 2000er-Jahre tobt – mit ein paar Jahren Unterbrechung – ein besonders brutaler Bürgerkrieg. Anfang 2013 stürzte die Rebellenkoalition Sel´eka´ den damaligen zentralafrikanischen Präsidenten, Francois¸ Bozize.´ Das Land geriet in einen Strudel der Gewalt. Die Sel´eka-´Koalition und die sogenannten Anti-Balaka-Milizen bekämpfen einander verbissen. Und beide verüben schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Ende 2014 schien sich die Lage vorerst etwas zu beruhigen. Doch vor einem halben Jahr brachen die Feindseligkeiten erneut in voller Härte aus.
Der Bürgerkrieg, in den zahlreiche Rebellenfraktionen verwickelt sind, wird auch entlang alter Konfliktlinien geführt: etwa zwischen sesshaften Bauern und umherziehenden Viehhirten. Sie streiten miteinander um das für beide lebenswichtige Acker- und Weideland. Viele der Hirten sind Muslime, viele der Ackerbauern sind Christen. Und damit fließt auch der konfessionelle Aspekt in den Konflikt ein. „Sie waren gut bewaffnet.“Nicola Bertin und die anderen aus seinem Dorf sind Christen. Trotzdem wurden sie auch von den Anti-Balaka-Milizen angegriffen, in deren Reihen vor allem Christen kämpfen. „Sie kamen, um zu plündern“, berichtet der 62-Jährige. „Sie waren gut bewaffnet, wir hatten nur Macheten. Wir konnten nur fliehen.“Drei Häuser hatte er in seinem Heimatdorf in der Zentralafrikanischen Republik, erzählt der Vertriebene. Jetzt lebt er mit seiner Familie in einem Zelt. „Es ist sehr heiß hier drinnen“, sagt er und deutet in das Innere. Auf dem Holzgestell, an dem die weiße Plane befestigt ist, hängen Kleidungsstücke. In einer Ecke sitzt ein Huhn in einem „Nest“, das ihm aus Steinen ausgelegt worden ist. Auf dem staubigen Platz vor dem Zelt kocht Nicola Bertins 18-jährige Tochter, Sephora, aus grünen Blättern ein dicke Soße – das Mittagessen für die Familie.
Die Menschen in der Flüchtlingssiedlung von Gon leben von dem, was hier wächst, von der Unterstützung durch internationale Organisationen und von dem, was sie anbauen. Der lokale tschadische Dorfchef hat für die Flüchtlinge und ihre Siedlung fünfzehn Hektar Land zur Verfügung gestellt. Doch noch haben die Flüchtlinge von den internationalen Helfern kein Saatgut erhalten. Sie müssen deshalb die Saison im nächsten Jahr abwarten, bis sie säen und ernten können.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und andere UN-Organisationen konzentrieren sich derzeit auf unmittelbare Hilfe für die Menschen. Unterstützung erhalten sie von DG-Echo, der Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission. „DG-Echo und die Mitgliedsländer leisten mehr als die Hälfte der humanitären Hilfe im Tschad“, sagt Olivier Brouant, Bürochef von DG-Echo im Tschad. „Wir finanzieren dabei aber nicht die Regierung, sondern humanitäre Organisationen und NGOs.“
Eine baldige Rückkehr der Flüchtlinge in die Zentralafrikanische Republik sei sehr unwahrscheinlich, erklärt Brouant. Man versucht deshalb, die Vertriebenen langfristig zu integrieren. Mit dem Ziel, dass sie sich wieder selbst versorgen können. Bei dem Überlassen von Land an Flüchtlinge seien die lokalen Dorfchefs bisher kooperativ gewesen, sagt Brouant. „Wir brauchen aber mehr Budget, um dann die Bauern zu unterstützen.“ Gutscheine für Lebensmittel. In der Flüchtlingssiedlung von Gon hat sich eine große Menschenmenge versammelt. Es sind meist Frauen in bunten Gewändern, die gekommen sind, um die Lebensmittelgutscheine für
Der Tschad hat 14 Millionen Einwohner und beherbergt 450.000 Flüchtlinge.