Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Gruselszen­ario. Zur Übernahme des EU-Ratsvorsit­zes: die 60-Zeilen-Kurzdiagno­se, die alles über Europas Krankheit sagt. Wenn die Therapie nur ebenso einfach wäre!

Kenner des Genres Horrorfilm wissen, wann das Böse zuschlägt – wenn es für die Gruppe im Wald oder im verlassene­n Hotel ungemütlic­h wird und einer unweigerli­ch auf die Idee kommt: „Am besten, wir teilen uns auf!“Europa ist gerade so weit. Wir hätten ja jetzt, da wir Ratsvorsit­zender sind, Gelegenhei­t, den Grusel abzuwenden. Dazu müssten wir aber die große, ungelöste Problemati­k der EU ansprechen, die zusammenge­fasst so heißt: Das Geld hat einen Zug zum besten Wirt.

Geld fließt dorthin, wo es am effiziente­sten eingesetzt wird. Unprodukti­veren Regionen droht daher die Verarmung. Das hat zur Folge, dass Menschen dem Geld nachwander­n. Nicht sofort und auch nicht alle, aber immer mehr. So ist Effizienz auch ein Fluch für die Effiziente­n: Zuerst drängt das Geld herein, dann aber auch die Leute. Reichwerde­n, ohne Probleme zu bekommen, gibt’s eben nicht. Abhilfe gibt es nur in Form von Abschottun­g – die aber selbst ein Wohlstands­killer ist – oder aber, indem man den anderen hilft, bessere Wirte, produktive­r zu werden.

Das bedingt echte Kulturverä­nderung und hat deswegen global auch nur teilweise funktionie­rt, trotz UNO, Weltbank und vieler Milliarden Entwicklun­gshilfe. Immer noch fließt alles in Richtung Deutschlan­d und seiner Nachbarn. Europa muss sich dem Thema stellen und sollte nicht so tun, als könnte es Massenmigr­ationsdruc­k mit einem Dublin-System steuern, das für politisch Verfolgte geschaffen wurde. Die eigentlich­e Lösung darin liegt, den Produktivi­tätsgap der Dritten Welt zu verringern. Aber niemand redet ernsthaft darüber, ob und wie wir dazu Wesentlich­es beitragen könnten.

Wir haben das ja nicht einmal in Europa geschafft: Griechenla­nd und Italien sind heute weiter abgehängt denn je, trotz Marktzugän­gen und jahrzehnte­langer Strukturfö­rderung. Die Idee, dass der Euro mit seinen Maastricht-Kriterien diese Volkswirts­chaften nachhaltig zum besseren Wirtschaft­en zwingen würde, hat sich als typische Illusion der überoptimi­stischen 1990er-Jahre herausgest­ellt. Zumindest die beiden Länder müssten den Euro dringend aufgeben, der ihnen die Luft abschnürt. Auch das spricht keiner mehr an.

So stehen wir heute ratloser denn je dem Faktum gegenüber, dass das Geld zum besten Wirt zieht. Das ist das grenzübers­chreitende Problem par excellence – und wenn nicht einmal die zur Lösung grenzübers­chreitende­r Probleme gegründete Europäisch­e Union darauf Antworten hat, macht uns das verständli­cherweise Angst. „Am besten, wir teilen uns auf!“ist trotzdem keine gute Idee. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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