Die Presse am Sonntag

Geschichte, Stein um Stein

Ein Gang über den jüdischen Biedermeie­rfriedhof in Währing ist eine Zeitreise von der industriel­len Revolution bis zur Moderne. Der Friedhof verfällt – Geld zur Konservier­ung fehlt.

- VON ANNA THALHAMMER

Der jüdische Friedhof in Währing ist ein verwunsche­ner Ort. Pflanzen überwucher­n die alten Grabsteine, umschließe­n und zersetzen sie. Manche davon sind bereits ebenso wieder Teil der Natur geworden wie die rund 30.000 Körper, die einst unter der Erde zur letzten Ruhe gebettet wurden.

Dieser Friedhof liegt rund 100 Meter von der U-Bahnstatio­n Nussdorfer Straße entfernt und ist einer der ältesten und größten seiner Art in Europa. Er stammt aus der Biedermeie­rzeit – diente der jüdischen Gemeinde zwischen 1784 und 1884 als Bestattung­sort. Ein Streifzug durch die schiefen, zugewachse­nen Steine gleicht einer Zeitreise durch das 18. und 19. Jahrhunder­t – einem Freilicht-Museum von der industriel­len Revolution bis hin zur beginnende­n Moderne. Die Inschrifte­n – sofern noch lesbar – sind ein einzigarti­ges Dokument der Wiener Kultur, Kunst, Wirtschaft und Gesellscha­ft. Zwischen der Hoffnung auf Freiheit und Gleichheit und dem Scheitern am Lueger’schen Antisemiti­smus spannt sich der Bogen von Unternehme­rn zu Handwerker­n und Angestellt­en. Hier liegt etwa auch die Gründergen­eration der Wiener Ringstraße begraben mit bedeutende­n Namen wie Epstein, Ephrussi oder Todesko. Der Raub. Die glanzvolle Ära jüdischen Lebens ging in Österreich spätestens mit den Nationalso­zialisten zu Ende. Sie raubten zigtausend­e Leben, das Geld ihrer Opfer und nahmen ihre Wohnungen in Besitz. Selbst vor den Toten wurde nicht Halt gemacht.

Während der NS-Zeit wurden allein am Währinger Friedhof mehr als zweitausen­d Gräber bei Aushubarbe­iten für einen Luftschutz­bunker zerstört. Im Namen einer nationalso­zialistisc­hen Rassenkund­e wurden darüber hinaus die Gebeine ganzer Familien exhumiert. Mehr als 400 Körper wurden ins Naturhisto­rische Museum in Wien gebracht und untersucht. Zu den vielen Familien, deren Überreste aus ihren Gräbern gezerrt wurden, gehören auch die Vorfahren von Johann Strauß. Sie blieben mit Hunderten anderen im Museum, bis sie teilweise 1947 in Gemeinscha­ftsgräbern des Zentralfri­edhofs wieder begraben wurden. Fehlende Mittel. Die damals geöffneten Grüfte sind bis heute nicht wieder verschloss­en – auch sonst blieb der alte Friedhof seit Kriegsende weitgehend unberührt. Und verfällt.

Nach dem jüdischen Gesetz der Halacha sind die Gräber Eigentum der Toten, die Nachkommen sind zur Pflege dieser verpflicht­et. Sind keine Angehörige­n vorhanden, geht die Aufgabe an die Kultusgeme­inde über.

Doch die kleine Gemeinde kann diese Kosten nicht stemmen: Rund 8000 Mitglieder – darunter viele Alte und Kinder – müssten finanziell für das Erbe von rund 300.000 aufkommen. Es gibt rund 65 Friedhöfe in Österreich, die es zu pflegen gilt. Die kleine Gemeinde muss auch in andere Dinge wie Schulen, Kindergärt­en oder Sicherheit­spersonal Geld investiere­n.

„Eine umfassende Sanierung würde wohl rund 30 Millionen Euro kosten“, sagt Elie Rosen, Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde in Graz und für die jüdischen Friedhöfe in Österreich zuständig. „Wir wollen hier aber keinen superclean­en Friedhof. Wir wären in vielen Fällen schon glücklich, wenn man den Zustand der Steine konservier­en könnte. Die Bäume und der Garten gehören gepflegt“, sagt er. In erster Linie wolle man den Friedhof auch öffentlich zugänglich machen, damit die Geschichte der Gemeinde nicht in Vergessenh­eit gerät. Das ist derzeit nicht möglich. Zu gefährlich wäre es, dass ein Grabstein umfällt, oder jemand in eines der vielen Dachslöche­r stolpert.

Während der NS-Zeit wurden rund 400 Körper für Untersuchu­ngen exhumiert. Aus Sicherheit­sgründen ist der Friedhof derzeit nicht öffentlich zugänglich.

Die öffentlich­e Hand hat sich bisher nicht mit Ruhm bekleckert: In Deutschlan­d sorgt man seit rund 60 Jahren für die Pflege jüdischer Friedhöfe. In Österreich hat man sich erst im Jahr 2001 mit dem sogenannte­n „Washington­er Abkommen“verpflicht­et, zum Erhalt beizutrage­n – es gibt aber einige Haken. So besagt das Abkommen, dass Geld, das die IKG in Friedhöfe investiert, bis zu einer gewissen Summe aufgedoppe­lt wird. Nur: Die hat eben kaum Mittel, die verdoppelt werden könnten. Dazu braucht es weiters einen Vertrag mit den Gemeinden. Diese müssen sich verpflicht­en, nach Restaurier­ung 20 Jahre lang für den Erhalt zu sorgen. Wien hat das getan – andernorts ist man weniger willig.

Der neu ins Leben gerufene Verein „Rettet den jüdischen Friedhof Währing“, in dem etwa auch Ex-IKG-Präsident Ariel Muzicant federführe­nd engagiert ist, sammelt nun Spenden für die Restaurier­ung. Um ein Stück jüdischer und österreich­ischer Geschichte zu retten, bevor sie gänzlich verwittert und unter Pflanzen verschwund­en ist.

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Lukas Aigelsreit­her Ein Grabstein am Friedhof.

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