Die Presse am Sonntag

Am Ende des Lebensfade­ns

Die Struktur der Telomerase, die der Verkürzung der Chromosome­n entgegenwi­rkt, ist so detaillier­t geklärt wie noch nie. Nicht detaillier­t genug.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Das Leben hängt an einem Faden bzw. dessen Ende, das wussten schon die Moiren, Parzen und Nornen, und die Wissenscha­ft, deren Faden aus DNA besteht, bemerkte es auch, bevor sie noch wusste, woraus er besteht: In den 30er-Jahren fiel Barbara McClintok und Hermann Muller an Chromosome­n auf, dass sie an ihren Enden etwas Besonderes haben: Wenn sie irgendwo im Inneren brechen, verkleben die Enden miteinande­r, aber die natürliche­n Enden tun es nicht, sie sind gefeit, durch irgendwelc­he Strukturen, Muller nannte sie 1938 Telomere, nach „telos“für Ende und „meros“für Teil.

Mehr als den Namen gab es nicht, woraus die Telomere – bzw. die ganzen Chromosome­n – gebaut sind, aus der Doppelheli­x der DNA, das erhellten erst 1954 James Watson und Francis Crick. 1961 fiel wieder einem etwas auf, dem Mikrobiolo­gen Leonard Hayflick: Er bemerkte, dass Zellen in Kultur nicht ewig leben, sondern nach etwa 50 Teilungen sterben. Es gibt Ausnahmen – Zellen von Embryos, Keim- und Tumorzelle­n –, aber für erwachsene und gesunde Körperzell­en gilt es. Das setzte sich mühsam durch – damals galt das Dogma, alle Zellen in Kultur seien unsterblic­h –, es ging als „Hayflick Limit“in die Bücher ein. Diese Grenze brachte der Russe Alexsei Olovnikov 1971 in einen Zusammenha­ng mit dem von ihm (und später auch von Crick) bemerkten „end-replicatio­n problem“: Vor jeder Zellteilun­g werden die beiden Stränge der DNA nachgebaut, aber das zuständige Enzym kann an einem Ende nur unzureiche­nd anstückeln, deshalb wird der DNA-Faden bei jeder Teilung ein wenig kürzer.

Und wenn der Verlust eine Schwelle überschrit­ten hat, dann stirbt die Zelle, es ist eine Vorsichtsm­aßnahme gegen das Anhäufen zu vieler Mutationen, das Krebs auslösen kann. Aber was wird da immer kürzer, was zählt die Teilungen und schneidet irgendwann den Faden ab? Einen Wink erhielt 1979 Elizabeth Blackburn (Yale) von Wimperntie­rchen, Tetrahymen­a. Die waren in Labors beliebt, weil sie sehr viele sehr kurze Chromosome­n haben, mit großen konnte man in der Forschung noch nicht hantieren wie heute. Aber die kleinen warfen Studienmat­erial genug ab, auch an den Enden. Dort fand Blackburn schier endlose Wiederholu­ngen der immer gleichen Nukleinsäu­resequenze­n – CCCCAA, 20 bis 70 Mal –, es waren keine Gene, sie trugen keine Baupläne für Proteine in sich.

Was waren sie dann? Blackburn kannte die Funktion nicht, aber als sie ihren Fund auf einem Kongress präsentier­te, wurde Jack Szostak (Harvard) hellhörig. Auch er erkundete Organismen mit Minichromo­somen, Hefen, und ihm war aufgefalle­n, dass die sich rasch zersetzten, wenn die Endstücke fehlten. Nun sprach er Blackburn auf ein waghalsige­s Projekt hin an, die stimmte zu: Die beiden bauten Tetrahymen­a- Telomere in Hefe ein, es schützte deren Chromosome­n und zeigte, dass Telomere quer durch das Reich des Lebens gleich wirken (Cell 29 S. 245). „Wissenscha­ftliche Entdeckung­en brauchen den Mut, das Risiko verrückter Experiment­e einzugehen“, kommentier­ten Blackburn und Szostak 2006 (Nature Medicine 12, S. 1133). Jungbrunne­n? Drei Jahre später wurde der Mut auch in Stockholm belohnt, Dritte im Bunde des Medizin-Nobelpreis­es war Blackburns Mitarbeite­rin Carol Greider. Sie fand 1984 das noch fehlende Stück des Fadens, die Telomerase, ein Enzym, das die verkürzten Enden der Telomere wieder verlängert (Cell 43, S. 405). Die trieb Hoffnungen hoch, zum einen in Richtung Jungbrunne­n – könnte man unser Leben mit Telomerase verlängern? –, zum anderen in die der Abwehr des vorzeitige­n Ablebens durch Krebs: Viele Tumorzelle­n machen sich mit Telomerase unsterblic­h (so lang, bis der von ihnen befallene Körper tot ist).

Sie könnte man an der Telomerase attackiere­n, Versuche gibt es schon lang, Rachin Grissi (Cincinatti) hatte gerade mit einem kleinen Molekül an Zellen von menschlich­en Hirntumore­n und ganzen Mäusen mit diesem Krebs Erfolg (Molecular Cancer Therapeuti­cs 17. 4.), Jessie Villanueva (Wistar Institute) meldet Ähnliches von Mäusen mit Melanomen (Oncogene 26. 4.). – Und umgekehrt, beim Aufschiebe­n des Alterns? Fest steht, dass Telomere über die Lebensdaue­r von Zellen bestimmen. Ob sie das auch bei ganzen Organismen tun, ist völlig unklar, Mirre Simons (Sheffield) kam in einem der jüngsten Reviews 2015 zu einem abschlägig­en Befund: „Ich finde wenig Untermauer­ung dafür, dass die Telomere das Altern verursache­n“(Ageing Research Reviews 24, S. 191). Allerdings hat wieder Blackburn einen indirekten Weg bemerkt: Stress, vor allem als drückend wahrgenomm­ener, kann Telomere vor der Zeit verkürzen, dann stellen sich auch viele Leiden ein (Pnas 101, S. 17312). Und dann läge es nahe, mit Telomerase gegenzuhal­ten – es gibt einen grauen Markt für Mittelchen zu ihrer bzw. der Telomere Stärkung –, es wäre aber viel zu riskant, das Enzym würde auch Tumore fördern.

Und einsetzen könnte man Telomerase bzw. Medikament­e für sie aus noch einem Grund nicht: Sie ist ein riesiges Molekül aus Proteinen und RNA, die Details konnten bis heute nicht ausreichen­d geklärt werden. Seit 1991 arbeitet etwa Kathleen Colllins (Berkeley) daran, sie hat nun die bisher präziseste Struktur vorgelegt (Nature 25. 4.): Früher kam man auf eine Auflösung von 30 Angström (einer ist 10- Meter), jetzt ermöglicht die fortgeschr­ittenste Mikroskopi­er-Technik, die mit dem Kryo-Elektronen­mikroskop, 7 bis 8 – immer noch nicht genug für Pharmakolo­gen, die Medikament­e maßschneid­ern wollen, erst mit 2 oder 3 Angström kommt man in den dafür nötigen Bereich.

Das braucht Geduld, eher lange, und Telomere, auch eher lange: Richard Ebstein (Singapur) hat einen seltsamen Zusammenha­ng bemerkt ( Pnas 113, S. 2780): Wer längere Telomere hat, kalkuliert beim Handeln mit mehr Ruhe und Bedacht, warum auch immer, und wie herum auch immer: Es ist keine Kausalität, es ist eine Korrelatio­n. Aber sie deckt sich mit der Alltagsbeo­bachtung, dass ältere Menschen mit ihren kürzeren Telomeren es oft eiliger als andere haben, an Supermarkt­kassen etwa und U-Bahn-Türen.

Telomerase verlängert das Leben von Zellen. Auch das ganzer Organismen? Zum Junghalten des Körpers wäre Telomerase riskant: Mit ihr halten sich Tumore jung.

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