»Das Leben nicht fallen lassen, auch wenn es zerbricht«
Der Tod verfolgt Marie-Claire, seit sie denken kann. Als sie drei Jahre alt ist, erkrankt ihre Mutter an einer schleichenden Form von Multipler Sklerose. Als das Mädchen in die Volksschule kommt, geht die Mutter bereits auf Krücken, einmal stürzt sie deswegen im Gang vor der Wohnung und blutet am Kopf. Marie-Claire handelt instinktiv, mit einem Leintuch zieht sie die Mutter in die Wohnung zurück.
Ein anderes Mal würgt sie ein Klassenkollege aus der Volksschule. Der Bub legt auch anderen Mitschülerinnen ständig die Hand um den Hals, bei zweien drückt er schließlich zu. „Ich dachte, das ist der Tod“, erzählt MarieClaire Jahre später. Bis heute kann sie keine zu engen Halsketten tragen, weil sie davon Panikattacken bekommt. Sie ist in der dritten Klasse Volksschule, als die nächste Tragödie passiert. Ihr Onkel, ihr Cousin und ihre Cousine sterben bei einem Autounfall. Dass sie sich nicht von ihnen verabschieden konnte, wird sie lang belasten. Allein mit der kranken Mutter. In der Familie gibt es niemanden, der das zarte Mädchen mit den langen, blonden Haaren, das mit heller, klarer Stimme spricht, richtig unterstützt. Die ältere Halbschwester lebt beim Vater, der ältere Halbbruder bei dessen leiblicher Mutter. Die Eltern sind getrennt. Übrig bleiben nur Marie-Claire und ihre Mutter – für die die Tochter über die Jahre hinweg so viel übernehmen wird: die Pflege, die Behördengänge, die Verantwortung. Die Tochter wird es sein, die die Mutter zurechtrückt, wenn sie wieder falsch liegt, sie wird Physiotherapeutentermine ausmachen, Ärzte organisieren, später Pfleger einschulen. Irgendwann wird sie die Mutter füttern und ihr zu trinken geben, als diese bettlägrig wird.
Es ist nicht so, dass niemand die Überforderung sieht. Mit neun Jahren schickt die Mutter das Mädchen zum ersten Mal zur Psychologin, weil sie eine Art Helferwahn entwickelt. Sobald ihre Mutter etwas allein macht, fragt das Kind: „Brauchst du was, brauchst du was?“Auf der Straße spricht sie Menschen an, die sich einen Knopf zumachen. „Brauchen Sie Hilfe?“
Sie nicht, aber das Kind. Das sich unverstanden fühlt, überlastet ist. „Ich sage immer zu allen, es ist etwas ganz Normales, aber natürlich ist das schlimm für mich. Ich will es halt nicht gern zugeben“, erzählt Marie-Claire heute. In der Schule verstehen das die Mitschüler nicht, besonders, als sie noch jünger ist. Wenn doch eh alles normal sei, warum sie dann ein Problem habe, will man dort wissen.
Lang nimmt niemand in der (erweiterten) Familie die Situation des Kindes so richtig wahr. Zu groß sind die eigenen Sorgen. Die Krankheit der Mutter, der Tod der Cousins.
Bis das Kaninchen von MarieClaire stirbt. Da ist sie 13.
Im Nachhinein betrachtet, sagt sie, klinge das unverständlich. Ein totes Kaninchen als Auslöser für Selbstmordgedanken. „Aber es war meine erste beste Freundin. Ich habe nicht verstanden, warum nicht.“
Dann geht alles rasend schnell. Das Mädchen teilt sich seiner Therapeutin mit, aber die nimmt sie nicht ernst. Wenige Tage später versucht sich die 13-Jährige in der Schule zu erwürgen. Der Klassenvorstand ruft die Direktorin, die die Rettung. Am Ende wird sie in die Wiener Psychiatrie eingeliefert. sie gehen musste und ich
In der Psychiatrie versucht MarieClaire wieder, so zu tun, als wäre alles in Ordnung („Damit ich schnell wieder rauskomme“) – sie bekommt Antidepressiva, verträgt sie nicht, muss sich ständig übergeben, entwickelt eine Gastritis. Bis heute ist zartgliedrig, kein Gramm Fett ist an ihrem Körper.
In der Psychiatrie beginnt das Mädchen, sich zu ritzen, fügt sich am Unterarm Wunden zu. Ihr Vertrauen in Erwachsene, in Therapeuten ist da schon längst dahin. „Die Direktorin hat mich auch ausgetrickst. Sie hat gefragt, ob ich gern mit Leuten sprechen will, die auch beeinträchtigte Eltern haben. Aber das war nur ein Vorwand.“
Vielleicht wäre alles so geblieben, vielleicht hätte Marie-Claires Geschichte ein schlimmes Ende genommen, hätte sie nicht plötzlich Unterstützung von unerwarteter Seite bekommen. Von Menschen, aber auch besonders von einem Tier. Einem Pony. Daisy. Licht und Schatten. Der Lichtblickhof, circa eine Stunde von Wien entfernt, liegt so versteckt zwischen den Hügeln, dass nicht einmal das Navigationsgerät einfach den Weg dorthin findet. Ein winkeliger Hof mit Holzscheiten vor der Tür, einem großen Stall und Gästehaus, in das die Pferde schon einmal reingehen dürfen. Einfach so, zum Bett der kranken Kinder. Auf dem Lichtblickhof ist vieles möglich.
Hierher kommen Jugendliche und Kinder (die jüngsten sind etwa vier) und deren Eltern, wenn sonst nichts mehr geht – und wenn die Tragik des Lebens sie nicht mehr aufrecht gehen lässt. Auf den Hof wird mit Wachkomapatienten gearbeitet, mit todkranken, schwerkranken und behinderten Kindern, aber auch mit traumatisierten und verzweifelten Geschwistern, deren Bruder, Schwester oder Eltern unheilbar krank sind. Im Lichtblickhof liegen Leben und Tod, Trauer und Glück oft ganz nah beieinander.
Gearbeitet wird hier mit Pferden. 370 Kinder betreuen der Verein E.Motion und seine zwölf Therapeuten in Wien auf der Baumgartner Höhe – und 180 eben hier in Niederösterreich, wo es Sommercamps gibt, Trekkings, Familienwochenenden. Gegründet wurde der Verein 2001 von Roswitha Zink und drei weiteren Frauen, die hier mit viel Herz und Engagement hoch professionelle Pionierarbeit leisten, aufgrund des breiten Angebots und indem sie ihre Arbeit wissenschaftlich evaluieren.
„Pferde reagieren auf Atemunterschiede, auf Muskelspannung. Sie können schon auf eine Kommunikation einsteigen, wenn menschliche Therapeuten das noch gar nicht wahrnehmen“, erklärt Zink das Grundprinzip von Equotherapie. Auf dem Hof gibt es etwa eine Stute, die viel und gern mit Wachkomapatienten arbeitet, die zum Teil im Bett zu ihr gebracht werden. „Da ist es schon mehrmals vorgekommen, dass die Patienten zum allerersten Mal willentlich eine Bewegung setzen oder nach dem Pferd greifen“, erzählt die blonde Frau mit den durchtrainierten Oberarmen („Eine Landwirtschaft kostet
Die Tochter kocht für die Mutter, füttert sie und übernimmt Behördengänge.