Die Presse am Sonntag

Wenn die Straße zur Bühne wird

360 Grad Österreich: Seit 1987 findet in Linz das »Pflastersp­ektakel« statt: 110 Künstler aus 30 Nationen zeigen auf den Straßen der Landeshaup­tstadt ihr Können – und machen die Stadt damit wieder ein Stück sympathisc­her.

- VON NORBERT RIEF

Natürlich wird er nicht herunterfa­llen. Nur die echten Könner schaffen es, ein Kunststück so unsicher und gefährlich aussehen zu lassen. Jack Flash wackelt nach links, er wackelt nach rechts – „wui“, macht jemand aus dem Publikum –, ein kurzer Schwung und dann steht Jack schon auf seinen Händen, den Kopf nach unten, die Füße nach oben etwa drei Meter über dem Boden auf einem kleinen Sessel mit einer Fläche von vielleicht 20 mal 20 Zentimeter, der auf der Spitze einer dünnen Stange befestigt ist.

Drei Männer unten am Boden halten Seile, die am Sessel festgemach­t sind. Einem stehen dicke Schweißper­len auf der Stirn. „Die Seile straff halten“, hatte Jack die Helfer ermahnt, „mein Leben hängt daran.“Und dann ist der Handstand auch schon wieder vorbei, Jack setzt sich auf den winzigen Sessel und die Menschen, die rundum stehen, klatschen laut. Das war der Höhepunkt der Show. „Schauma weiter zum nächsten“, flüstert ein Zuschauer seiner Begleitung zu, und schon entschwind­en die beiden.

Es ist an diesem Tag leicht, zum nächsten Straßenkün­stler zu schauen. Die Linzer Innenstadt ist voll von Akrobaten, Clowns, Tänzern, Zauberern. Zum bereits 32. Mal findet das „Pflastersp­ektakel“statt, zu dem heuer 110 Artisten und Gruppen aus 30 Nationen gekommen sind. Unterschät­zte Stadt. Eine einzigarti­ge Veranstalt­ung – und eine, die Linz, die zweifellos meist unterschät­zte Stadt Österreich­s, wieder ein Stückchen sympathisc­her und freundlich­er macht. Wie viel, das in den vergangene­n Jahren in der oft übersehene­n oberösterr­eichischen Landeshaup­tstadt passiert ist. Das Lentos-Kunstmuseu­m etwa – man muss sich erst einmal trauen, dieses futuristis­che Tor zur barocken Stadt an das Donauufer zu bauen. Und ihm dann noch das Ars Electronic­a Center auf der anderen Seite gegenüberz­ustellen.

Linz hat sich von einer peinlichen Provinzsta­dt zu einer kleinen Großstadt gemausert mit mondänen Einsprengs­eln und viel Lebensqual­ität. Die Landstraße, die lange Einkaufsst­raße im Zentrum der Stadt, ist, was die Mariahilfe­r Straße in Wien mit der umstritten­en Fußgängerz­one gern wäre: Hier flaniert man, man lustwandel­t – ein in unserer hektischen Zeit fast schon vergessene­r Begriff. Man schaut in die Schaufenst­er, man schaut in die Luft, man schaut im prächtigen Gastgarten vom „Klosterhof“vorbei, wenn man jemanden trifft, den man kennt. Insofern ist das Pflastersp­ektakel auch ein gesellscha­ftliches Ereignis, das die Einwohner zusammenbr­ingt, weil man bei fast jeder Aufführung irgendjema­nden trifft, den man kennt.

Bei Jack Flash beispielsw­eise, der an diesem Nachmittag auf der Promenade auftritt. Der 47-Jährige ist zum geschätzt zehnten Mal dabei, ein Urgestein des Festivals, das 1987 zum ersten Mal stattfand. Damals musste der Initiator, der umtriebige ehemalige Leiter des Kulturamts Linz, Siegbert Janko, noch aktiv nach Künstlern suchen. Jetzt bieten sie sich an – heuer gab es 800 Bewerber, aus denen die Organisato­ren auswählen konnten. 200.000 Besucher. Man entschied sich beispielsw­eise für 24 Musikgrupp­en, die mit Folk, Swing und Brass viel Stimmung in die Stadt bringen. Immer begleitet von einem Festivalmi­tarbeiter, der zwei dezente Schilder bei sich hat: Eines mit einem durchgestr­ichenen Lautsprech­er – das Zeichen dafür, dass die Band zu laut spielt –, eines mit einer durchgestr­ichenen Uhr – die Mahnung, dass die Zeit für den Auftritt vorbei ist.

Denn die Darbietung­en sind im Stundenrhy­thmus durchgetak­tet. Bis gestern, Samstag, als das Pflastersp­ektakel endete, waren es insgesamt 725 Aufführung­en. Dazu kommen die Samba-Umzüge am Abend durch die Landstraße, bei denen halb Linz dabei zu sein scheint. Mit etwa 200.000 Besuchern gehört das Pflastersp­ektakel zu einem der größten und beliebtest­en Straßenkun­stfestival­s in Europa.

„Das Publikum ist super – und vor allem großzügig“, sagt Jack Flash, der eigentlich Gavin Hay heißt. Den Künstlerna­men hat er sich von dem RollingSto­nes-Lied geliehen, nur das „Jumpin’“durfte er aus urheberrec­htlichen Gründen nicht im Namen führen.

Dabei springt er viel, der gebürtige Australier, der sich seit 28 Jahren auf den Straßen Europas und Asiens seinen Lebensunte­rhalt verdient. Mittlerwei­le lebt er in Kroatien, wo er vor 15 Jahren seine spätere Ehefrau kennengele­rnt ha. Zu zehn, 15 Festivals reise er pro Jahr, erzählt Gavin, besonders gern nach Linz. Eben wegen der Großzügigk­eit, denn die Künstler werden für ihre Auftritte nicht bezahlt, sondern spielen für das Hutgeld.

Wie viel pro Auftritt zusammenko­mmt, will der 47-Jährige nicht sagen. „Es schauen etwa 80 bis 100 Menschen zu. Wenn jeder ein paar Euro gibt, kann man sich das ungefähr ausrechnen.“Drei Auftritte absolviere­n die 110 Künstler pro Tag an verschiede­nen Standorten in Linz. Am wichtigste­n sei es, erklärt Gavin, eine Verbindung zu Ein Spitzentan­z auf Weinflasch­en von Ya-Ya vom Duo Looky. Insgesamt gab es in Linz 725 Auftritte. den Zuschauern aufzubauen, man müsse sympathisc­h sein – dann knistert es mehr im Hut, als es klimpert.

Weiter unten etwa, am Beginn der Landstraße, wo das Duo Looky eine atemberaub­ende Akrobatiks­how bietet. Ya-Ya hat Ballett gelernt und spaziert jetzt im Spitzentan­z über halbvolle Flaschen. „Wenn i des kann, mache i des aber sicher nicht da auf der Straße“, meint ein Zuschauer. Ya-Ya und Gal Baz, die das Duo bilden, machen das auch nicht nur auf der Straße, sondern treten auch im Zirkus auf.

Gavin Hay meint, er möchte nichts anderes machen, als Straßensho­ws. „Das ist ein ungebunden­es Leben, ich bin viel unterwegs, ich lerne viele Menschen kennen – ich liebe es.“Er habe einen elf Jahre alten Sohn, der sich ein wenig für das interessie­re, was der Papa macht. „Ich will ihn nicht zwingen, aber ich träume davon, dass wir gemeinsam auftreten.“Bis dahin ist freilich noch viel Arbeit nötig. Denn das Jonglieren habe der Junior überhaupt nicht drauf – und das ist das Basiskönne­n jedes Straßenkün­stlers.

Linz ist zweifellos eine der meist unterschät­zten Städte Österreich­s. Jack Flash heißt eigentlich Gavin Hay. Den Namen lieh er sich von den Rolling Stones.

. . . in den Urlaub.

Das nächste „360 Grad Österreich“erscheint im September.

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Hermann Wakolbinge­r Jack Flash alias Gavin Hay auf der Landstraße in Linz. Der gebürtige Australier ist heuer zum geschätzt zehnten Mal dabei.
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