»Fünf Männer riskieren jeden Tag ihr Leben für mich«
Immerhin bleiben seine Gedanken frei, sagt Paolo Borrometi. Der Autor deckt die Machenschaften der Mafia auf und braucht laufend Schutz.
Auch der Journalist ist der Meinung, es habe sich viel geändert, nach den blutigen 1980er- und 1990er-Jahren, nach den brutalen Anschlägen auf Politiker und Mafia-Ermittler. Es gebe nun bessere Gesetze und auch die andauernden Ermittlungserfolge und Festnahmen wirkten sich auf die Gesellschaft aus. „Aber auch heute sind leider diejenigen noch in der Mehrheit, die lieber wegschauen. Der Mafioso ist aber nicht nur der, der schießt und der andere besticht, es ist leider auch der, der das protegiert. Ob aus Fahrlässigkeit oder mit Vorsatz, aus Angst oder Bequemlichkeit: wegzuschauen heißt, die Mafia zu unterstützen.“ Wegschauen kostet. Viele wollten auch einfach nur ein ruhiges Leben. Unbehelligt ans Meer fahren, ins Theater oder ins Stadion gehen. Dinge, die Borrometi seit fünf Jahren nicht mehr getan hat. Er steht von seinem Stuhl auf, geht an die Bar, um noch einen Cafe´ zu bestellen – die beiden Schränke weichen ihm nicht von der Seite. Im Gegensatz zu seinen früheren Freunden. So viel kann es kosten, hinzuschauen statt wegzuschauen. Heute, im Jahr 2018.
Ein erster Wendepunkt im Verhältnis zwischen Mafia und Gesellschaft liegt an diesem Tag bereits mehr als 40 Jahre zurück. In der Nacht zum 9. Mai 1978 wird Giuseppe Impastato, genannt Peppino, in Cinisi bei Palermo ermordet. Impastato, 1948 selbst in eine Mafia-Familie hineingeboren, hatte sich politisch und kulturell gegen die Clans engagiert, einen Radiosender Herr Borrometi, vor wenigen Tagen hat Innenminister Matteo Salvini damit gedroht, den Personenschutz des Gomorrha-Autors Roberto Saviano aufzuheben. Auch Sie leben seit fünf Jahren mit einer Eskorte. Was haben Sie gedacht, als Sie die Worte Salvinis hörten? Paolo Borrometi: Das Leben unter Geleit ist kein Privileg, sage ich Ihnen. Es ist die Hölle. Ich lebe so seit fünf Jahren. Fünf Männer riskieren seitdem jeden Tag ihr Leben für mich. Vor drei Monaten bin ich nur knapp einem Attentat durch eine Autobombe entkommen. Sie hätte nicht nur mich, sondern auch meine Eskorte in Stücke gerissen. Und das fast 30 Jahre nach der Zeit der großen blutigen Anschläge auf die Ermittler Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Vor wenigen Tagen wurde ein Gerichtsurteil gesprochen, das klar besagt, dass ein weiterer Clan aus Syrakus mich umbringen wollte. Ich werde von fünf unterschiedlichen Clans mit dem Tod bedroht. Das ist doch der Beweis dafür, wie groß die Gefahr tatsächlich für uns ist. Vor ein paar Jahren haben sie die Eskorte von Marco Biagi abgeschafft. Wenige Wochen später wurde der Jurist ermordet. Die Mafia, die Kriminellen, die Terroristen – sie sind in Wartestellung. Kann Salvini überhaupt so eine Entscheidung treffen? In Italien ist es nicht der Innenminister, der über den Personenschutz bedrohter Menschen zu entscheiden hat. Da gibt es noch Richter und regionale und nationale Gremien, die da auch noch ein Wörtchen mitzureden haben. Es fühlte sich schlimm an, diese Worte zu hören. Italien darf kein Land sein, in dem derjenige, der nicht die Meinung des Innenministers vertritt, alleingelas- gegründet, über den er die Machenschaften der örtlichen Mafia laut und frech anprangerte. Kurz vor seiner Ermordung ließ er sich als Kandidat für die Kommunalwahl aufstellen.
Noch vor der Wahl zerriss ihn eine Bombe. Er musste den Kampf gegen die Mafia wie so viele mit seinem Leben bezahlen, doch sein Begräbnis wird zum Schlüsselereignis, zum Protestzug gegen das organisierte Verbrechen. „Als der Sarg durch die Straße getragen wurde, haben die Bewohner von Cinisi ihre Fensterläden zugezogen und wie immer weggeschaut. Doch aus ganz Sizilien waren hunderte Unterstützer Impastatos angereist und verwandelten den Trauerzug in eine beeindruckende Demonstration“, erzählt Federico Varese, Professor für Kriminologie an der Universität Oxford. Die Anhänger Impastatos trugen Fahnen und Spruchbänder: „Mit den Ideen und dem Mut von Peppino werden wir weitermachen.“Den toten Mafia-Gegner wählten die Bürger Cinisis später in ihren Gemeinderat.
„Solche Aktionen haben durchaus einen Effekt“, sagt Varese, der für seine Studien mit vielen Mafiosi in Kontakt steht. „Es ist eben nicht so wie in den derzeit so beliebten Serien wie „Gomorrha“, in denen alle furchtlose Helden sind. Nein, der Mafioso bekommt
1983
wird Paolo Borrometi in Ragusa auf Sizilien geboren.
beginnt er nach seinem Jusstudium die journalistische Arbeit bei der Zeitung „Giornale di Sicilia“.
2010
Seit Dezember ist er Präsident von Articolo 21, einer Vereinigung von Journalisten, Autoren, Regisseuren und Juristen, die sich für die freie Meinungsäußerung einsetzen. Seit fünf Jahren lebt er nach etlichen Angriffen und Morddrohungen unter Polizeischutz. Er ist Träger vieler Auszeichnungen, unter anderem wurde ihm auf Initiative von Staatspräsident Sergio Mattarella der Titel Cavaliere Ordine al Merito della Repubblica Italiana verliehen.
2015 2017
sen wird. Salvini hat ja wenig später auch eingeräumt, dass die Entscheidung nicht bei ihm liegt. Aber allein, dass in diesem Land Personen mit institutioneller Verantwortung solche Dinge sagen, macht mich fassungslos. Personen, die eigentlich den Anstand haben sollten, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Und eines möchte ich auch noch sagen: Ich bin überzeugt, dass Roberto Saviano der Erste wäre, der glücklich darüber wäre, wenn er nicht mehr unter Personenschutz stehen müsste. Wenn er nicht mehr mit dem Tod bedroht würde. Woher nehmen Sie die Kraft, weiter Ihrer Arbeit nachzugehen und weiter über die Machenschaften der Mafia zu schreiben? In diesem Staat gibt es fast 20 Journalisten wie mich, wie Saviano, die mit Polizeischutz leben müssen. Es gibt aber auch Priester, wie Don Luigi Ciotti, Unternehmer, Richter, die einer großen Gefahr ausgesetzt sind. Ich glaube: Jeder hat seine Pflicht. Unsere Arbeit ist fundamental für dieses Land. Wie funktioniert der Personenschutz? Meine Eskorte ist 24 Stunden am Tag bei mir. Fünf Männer folgen mir auf Schritt und Tritt, zu all meinen Terminen. Leben habe ich keines. Ich gehe nicht ans Meer, ich gehe in keine Konzerte, nicht ins Theater oder ins Stadion. Seit fünf Jahren. Das Leben mit Eskorte ist die Hölle. Aber ich sage immer: Ich habe ein kleines bisschen meiner physischen Freiheit eingebüßt, aber ich habe eine viel wichtigere Freiheit behalten: die meiner Gedanken. Meine Arbeit – also meine journalistischen Recherchen – hat zu mindestens 15 Polizeiermittlungen geführt, diese wiederum zu Festnahmen und Gerichtsverfahren. Das ist das Wichtigste im Kampf gegen die Mafia: Man muss zusammenarbeiten, zusammenhalten. durchaus Angst, wenn er sieht, dass die Bevölkerung gegen die sogenannte ehrenwerte Gesellschaft aufsteht.“ Orlando ist nicht allein. Etwas, was Leoluca Orlando bestätigen kann. Der 69-jährige Jurist ist das Gesicht des heutigen Palermo. Des sauberen Palermo – zumindest im Vergleich zu früher. Von 1985 bis 2000 war er mit einer kurzen Unterbrechung Bürgermeister der Hauptstadt Siziliens und ist es seit 2012 wieder, auch er lebt seit Jahren unter Polizeischutz.
Nach der Ermordung des Richters Paolo Borsellino habe eine Zeitung geschrieben, er werde der nächste sein, erzählt Orlando. „Als die Frauen der Stadt das gelesen haben, haben sie der Polizei eine Liste mit Namen gebracht und gesagt: Unsere Kinder sind bereit, in Orlandos Wagen mitzufahren.“
Natürlich würde er nie ein Kind in sein Auto steigen lassen, aber die Botschaft war klar: Orlando ist nicht allein. „Später fand ich heraus, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Mafia die Mehrheit der Bosse Nein gesagt hat, als ihr damaliger Chef, Toto Riina, meinen Tod befahl. Sie sollen ihm geantwortet haben: Hast du Zeitung gelesen? Die Kinder in Palermo sind bereit, mit Orlando zu sterben. Ihn zu ermorden, ist uns zu heikel.“Orlando schaut sein Gegenüber lang über seinen schweren Holztisch im herrschaftlichen Palazzo delle Aquile im Herzen Palermos hinweg an. „Die Liebe der Frauen und Kinder war ein stärkerer Schutz als die Panzerung des Wagens oder die Waffen der Polizisten.“
Das Begräbnis von »Peppino« wird zum Schlüsselereignis beim Kampf gegen die Mafia.