Die Presse am Sonntag

So viel Zeit musste sein

Der Mensch arbeitet so wenig wie noch nie. Das klingt schön. Ist aber ziemlich sicher falsch. Von entspannte­n Griechen, »blauen Montagen« und dieser mechanisch­en Uhr, die alles änderte: Eine kleine Geschichte der Arbeitszei­t. Aus aktuellem Anlass.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Es beginnt am anderen Ende der Welt. Mit Steinmetze­n in Australien. 1856 legen sie die Arbeit nieder. Ihr Protestmar­sch wird zum Triumphzug. Sie erstreiten und erstreiken den weltweit ersten Achtstunde­ntag bei vollem Lohnausgle­ich. Er gilt zwar nur für Industriea­rbeiter. Und ist auch nicht gesetzlich verankert. Und doch ist es eine Zäsur. Ein Denkmal in Melbourne kündet noch heute von jenen Apriltagen 1856. Drei Ziffern glänzen bronzen auf dem Monument. „888“. Acht. Acht. Acht. Für die weltweite Arbeiterbe­wegung war das immer schon eine hochsymbol­ische, ja magische Zahl.

„Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung“: So hatte es der walisische Frühsozial­ist Robert Owen in den 1830ern erdacht. Eine Balance aus Freizeit und Arbeit. Eine Utopie. Damals. Aber sie hallte um die Welt. Sie machte Karriere. 1918 dann auch in Österreich.

Nun, 100 Jahre später, streitet die Republik wieder über die Work-LifeBalanc­e, wie das auf Neudeutsch heißt. Die einen halten den Achtstunde­ntag für überholt, für aus der Zeit gefallen, die anderen für zeitlos. Was zu einem augenzwink­ernden Rückblick auf die Geschichte der Arbeitszei­t veranlasst.

Und da gibt es durchaus einige Mythen. Denn die Bilder der Industrial­isierung, der rauchenden Schlote, der verdreckte­n Städte und verelendet­en Industriea­rbeiter können in die Irre führen. Sie verleiten zu der Annahme, dass der Mensch noch nie so wenig gearbeitet habe wie heute. Doch wie die Zeit ist auch die Sache mit der Arbeitszei­t relativ. Müßiggang. Man muss nicht mit den Jägern und Sammlern tauschen wollen. Aber nach heutigen Maßstäben waren sie eher unterbesch­äftigt. Zwei bis vier Stunden pro Tag und im Schnitt dauerte die Suche nach Fleisch, nach Beeren, und viel mehr war nicht zu tun. Das wollen Ethnologen aus Beobachtun­gen von Urvölkern ableiten, die noch heute wie damals leben.

Ziemlich sicher ist, dass uns Aristotele­s für „Banausen“halten würde. An Arbeit als Tugend oder Form der Selbstverw­irklichung zu denken, war den antiken Griechen fremd. Man verstand sich auf die Kunst des Müßiggangs. Arbeit war verpönt. Sie wurde als Gegensatz zur Freiheit gesehen. Was insofern stimmte, als sie vielfach Sklaven zu verrichten hatten. Der Rhythmus der Natur. Auch das Mittelalte­r darf man sich über weite Strecken nicht als Arbeitsges­ellschaft vorstellen. Das Bild vom allzeit geknechtet­en Bauern ist eine Mär. Zumindest legen das Forschunge­n der US-Soziologin Juliet B. Schor nahe. Demnach ging es in dieser oftmals düster gezeichnet­en Epoche ziemlich „entspannt“zu.

Sonnenauf- und -untergang setzten der Arbeitszei­t natürliche Grenzen. Lange Pausen und knochenhar­te Arbeit wechselten einander ab. Den modernen Zeitdruck gab es nicht. Minuten und Sekunden waren noch nicht zu messen und für den Selbstvers­orger auch nicht nötig. Die Natur gab den Rhythmus vor. Im Winter war der Arbeitstag kürzer, vermutlich acht Stunden, im Sommer länger, bis zu 16 Stunden. Der deutsche Wirtschaft­swissensch­aftler Bert Rürup schätzt die Jahresarbe­itszeit auf 2000 Stunden pro Jahr. Die Soziologin Schor geht von nur 1400 Stunden für einen britischen Tagelöhner im 14. Jahrhunder­t aus, was weniger als heute wäre (1738 Stunden).

Denn der Kalender im frömmelnde­n Mittelalte­r war von Dutzenden Fest- und Feiertagen durchzogen. Das Vieh war zwar auch dann zu füttern. Aber ansonsten wurde gebetet und gerastet. Und bei Handwerker­n schlich sich da und dort die Sitte ein, zu Wochenbegi­nn die Arbeit ruhen zu lassen. Wegen dieses „blauen Montags“machen wir noch heute blau.

Doch hinter den Klostermau­ern der Benediktin­er beginnt ein neues Zeitregime und Arbeitsbil­d zu greifen. Ihr Leitspruch „Ora et labora“(„Bete und arbeite“) setzt sich vom antiken Müßiggang ab. Die Mönche filetieren den Tag in kleine Zeiteinhei­ten. Sand-, Son- nen-, Wasseruhre­n helfen – und das Abbrennen von Kerzen. Auch das Leben in den Städten löst sich nach und nach von den Zyklen der Natur. Die Uhrzeit. Bald läuten die anfangs sündteuren, mechanisch­en Uhren in Stadt- und Kirchtürme­n eine neue Ära ein: die Uhrzeit sozusagen. „Die Uhr, nicht die Dampfmasch­ine ist das entscheide­nde Gerät der Moderne“, wird der Historiker Lewis Mumford später urteilen.

„Nach und nach erschafft die mechanisch­e Uhr die Vorstellun­g einer linearen Zeit, die unerbittli­ch abläuft, die sich also nicht in Zyklen wiederholt“, sagt der Soziologe Jörg Flecker von der Universitä­t Wien zur „Presse am Sonntag“. Die Zeit wird „vergleichb­ar gemacht“. Man könnte auch sagen: Die Menschheit synchronis­iert sich. „Was heute selbstvers­tändlich ist, dass es eine einheitlic­he Weltzeit gibt, das war ja zuvor nicht einmal innerhalb eines kleines Gebiets der Fall“, sagt Flecker.

Ein neues Zeitgefühl durchdring­t die Menschheit. Auch eine neue Zeitknapph­eit. Zeit ist jetzt Geld. Ar-

»Nicht die Dampfmasch­ine, die Uhr ist das entscheide­nde Gerät der Moderne.«

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