Roadtrip im Roman: Auf Achse mit den Kindern
Männer, ein Auto, jede Menge Exzess – so laufen die meisten Roadtrips ab. Aber es geht auch anders. In den Romanen von Jesmyn Ward, Dave Eggers und anderen tollen plötzlich Kinder auf der Rückbank herum. Oder es schläft dort der Opa.
Am Beginn steht meist der Schmerz. Eine Kränkung, eine Demütigung, ein Verlust – und die Sehnsucht, vor all dem fliehen zu können. Also ab ins Auto und so weit wie möglich weg vom Ort der Niederlage: So war das schon beim Klassiker der Roadtrips, Jack Kerouacs „Unterwegs“. Und so blieb das bis heute: Nachdem ihm seine Frau aus heiterem Himmel eröffnet hat, dass sie mit einem anderen schläft und nicht vorhat, damit aufzuhören, packt der Held in Murakamis „Die Ermordung des Commendatore“ein paar Kleidungsstücke und sein Tagebuch in eine Sporttasche und irrt mit seinem Peugeot 205 durch den Norden Japans. Er fährt und fährt über Wochen, wie im Rausch. Bis er klarer sieht.
Beim Roadtrip geht es selten um ein Ziel – obwohl auch eine penibel geplante Fahrt entgleisen kann –, im Mittelpunkt steht der Akt des Fahrens an sich. So ein Auto ist schließlich nicht irgendein Vehikel. Es ist ein Schutzraum, ein Heim auf Rädern. Vorn die Straße, links und rechts zieht die Landschaft vorbei, im Rückspiegel das, was man hinter sich gelassen hat. Aus dem Kassettendeck (es gibt fast immer ein Kassettendeck) dröhnt Musik, Untermalung für den Aufbruch, den Ausbruch. Zeit, zur Ruhe zu kommen. Oder im Gegenteil: Zeit für den Exzess, der einen alles vergessen lässt. Drogen, Sex und jede Menge Alkohol.
Die Helden brechen Regeln, deren Befolgung sie, finden sie, nirgendwohin gebracht hat. Was hat es Maik aus Wolfgang Herrndorfs großartigem „Tschick“genutzt, dass er gute Miene zum bösen Spiel der Eltern und seiner Klassenkameraden gemacht hat? Dann lieber mit dem anderen Außenseiter der Klasse einen hellblauen Lada Niva klauen. Dass keiner der beiden einen Führerschein besitzt? Auch schon egal. Auf Achse gelten andere Gesetze. Das Motel. Doch jede Fahrt muss unterbrochen werden. Man muss tanken. Übernachtet im Hotel, Motel, einer Pension. Dort wird man wieder konfrontiert mit der Welt, mit den anderen. Dort kann alles passieren. Und das tut es auch.
Der Roadtrip war lange eine männliche Angelegenheit: ein Mann und ein Auto. Oder: zwei Männer und ein Auto. „Thelma und Louise“blieb ein singuläres Ereignis. Doch in letzter Zeit erobern die Frauen wieder das Steuer. Bill Clegg ließ 2017 in „Fast eine Familie“seine Heldin in einen Subaru steigen, um damit quer durch die USA zu fahren. Und immer häufiger tollen Kinder auf dem Rücksitz herum. einem Roadtrip erwartet: Josie haut ab und flieht mit ihren Kindern in einem gemieteten Wohnmobil, das schon bessere Tage gesehen hat, nach Kanada. Zurück bleiben: Ein Ex-Ehemann, der die Kinder seiner neuen Verlobten vorstellen will. Ihre Zahnarztpraxis, die auf Millionen verklagt wurde, weil sie bei einer Patientin angeblich frühe Anzeichen von Hautkrebs übersehen hat. Und das Grab eines jungen Soldaten, an dessen Tod sie sich die (Mit-)Schuld gibt. Wäre sie ein Mann, würde sie wohl allein vor Waldbränden fliehen und in verlassene Hütten einbrechen. Aber als Mutter, noch dazu mit einem verantwortungslosen Ehemann, kann sie die Kinder nicht zurücklassen. Sie kommen also mit: ein nachdenklicher Bub im Volksschulalter und ein wildes Mädchen, das mit traumwandlerischer Sicherheit jeden möglichen Schaden anrichtet. Einmal dreht sie an den Knöpfen am Herd, woraufhin sich das Wohnmobil mit Gas füllt. Ein andermal legt sie einen Schalter um, und der Fäkalientank wird aufgeheizt. Kochender Kot!
Der US-amerikanische Schriftsteller Dave Eggers hat u. a. den langatmigen Bestseller „The Circle“über eine Daten sammelnde Firma a` la Facebook geschrieben und den weniger beachteten, dabei viel intensiveren und politisch relevanteren Roman mit dem Titel „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“. Er handelt vom Scheitern und der Wut eines jungen weißen Mannes. In „Bis an die Grenze“konzentriert sich Eggers auf das Erleben der Mutter, die – typisch Roadtrip – die Zwischenstopps auch für schnellen Sex und die Konsumation hochprozentigen Alkohols nutzt, dabei aber den totalen Exzess vermeidet: Die Kinder! So fährt sie von Ort zu Ort, immer auf der Suche nach dem wahren Kanada. Doch dieses Kanada gibt es nicht. Was die drei finden werden: So etwas wie Glück. Eigentlich hat Jojo mit seiner Mutter nicht viel zu tun. Sie ist drogensüchtig und dauernd unterwegs, der Opa kümmert sich um ihn und seine Schwester. Doch plötzlich soll sich das ändern, die Mutter will Jojos Vater aus dem weit entfernten Gefängnis abholen, und die Kinder müssen mit. Also machen sie sich auf den Weg – in einem weinroten Chevrolet Malibu, der so präpariert ist, dass man Drogen bei einer allfälligen Polizeikontrolle diskret durch eine Klappe loswerden kann.
Jesmyn Ward, die für diesen Roman mit dem US-amerikanischen National Award of Fiction ausgezeichnet wurde, schildert in „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“die Fahrt Richtung Norden zunächst aus der