IN ZAHLEN
Das Chaos in Europas Luftfahrt im heurigen Sommer deckt die Versäumnisse der Vergangenheit auf: Seit fast 20 Jahren wird über das EU-Projekt eines einheitlichen europäischen Luftraums gesprochen. Geschehen ist nicht viel, nationale Interessen und Bürokrat
Pass, Badesachen, Buch: Wer jetzt mit dem Flugzeug verreist, braucht freilich vor allein eines – gute Nerven. Denn die Chance, dass sein Flugzeug von einem europäischen Flughafen pünktlich abhebt, ist gering. Da hilft weder Bangen noch Beten, die Zahlen sprechen für sich: Im ersten Halbjahr waren Flugzeuge im europäischen Luftraum 47.000 Minuten verspätet – pro Tag, errechnete der Weltluftfahrtverband IATA. Was einem Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 133 Prozent entspricht. Allein im Juli waren von den 1,08 Millionen Flügen am Himmel über Europa 244.713, also knapp ein Viertel, verspätet.
Das ist, so warnt die europäische Flugsicherung Eurocontrol, freilich nur ein Vorgeschmack. Bis 2040 werde sich die Zahl der um bis zu zwei Stunden verspäteten Flüge versiebenfachen. Wobei: Der Schätzung liegt ein jährliches Wachstum des Luftverkehrs von 1,9 Prozent zugrunde. Derzeit beträgt das jährliche Plus in der Luftfahrt aber rund vier Prozent, doppelt so viel wie in der Wirtschaft. Vorprogrammiertes Chaos. Was ist passiert? Oder besser gesagt nicht passiert? An Schuldzuweisungen mangelt es nicht. Sie reichen von Wetterkapriolen, Fehlplanungen der Airlines über Kapazitätsengpässe der Flughäfen bis zu streiklustigen Piloten und Fluglotsen. Bei Letzteren kommt man der Sache schon näher: Die Damen und Herren in den verglasten Türmen, die die Flieger durch den Himmel leiten, sind frustriert. Nicht wegen ihrer (guten) Bezahlung, die angesichts ihrer äußerst anspruchsvollen Tätigkeit durchaus berechtigt ist. Auch nicht wegen ihrer Arbeitszeiten rund um die Uhr. Vielmehr lässt ein Projekt der EU die Lotsen auf die Barrikaden gehen, das viele Probleme lösen könnte, aber ihrer Meinung nach eine schwere Bedrohung ihres Berufsstands darstellt: der einheitliche europäische Luftraum (Single European Sky, SES). Hinter diesem sperrigen Begriff steckt eine brillante Idee: Der von nationalen Flugsicherungen mit verschiedensten IT-Systemen überwachte Luftraum, der nicht nach Verkehrsströmen, sondern an nationalen Grenzen ausgerichtet ist, soll neu strukturiert werden. Das soll die Verkehrsströme optimieren.
Flüge
wurden am 29. Juni am europäischen Himmel gezählt. Das war Rekord. Im Schnitt werden an einem Tag 26.000 Flugbewegungen registriert.
Tausend Minuten
waren Flugzeuge im ersten Halbjahr 2018 verspätet. Das ist eine Zunahme um 133 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Milliarden Passagiere
werden 2036 in Europa erwartet, eine Verdoppelung gegenüber 2017. Weltweit soll sich die Zahl der Flugreisenden auf fast acht Milliarden verdoppeln. Man wagt es gar nicht zu sagen: Die Idee gibt es schon seit Ende der 1990erJahre. Aber auch nach fast zwei Jahrzehnten ist der 2001 erarbeitete Masterplan nicht einmal in Bruchteilen realisiert – obwohl die EU bisher gut 750 Millionen Euro an Fördergeldern dafür aufgewendet hat. Bisher wurde also nur Geld verbrannt und nicht eingespart. Auf Letzteres zielt der SES ab: weniger Zeit und Kosten durch den Wegfall von Routenumwegen, Warteschleifen und Verspätungen. Dazu kommt die damit verbundene Entlastung der Umwelt. Eines der ehrgeizigsten EU-Projekte droht also zu scheitern. Was angesichts der rasanten Entwicklung der Luftfahrt für die Zukunft nichts Gutes verheißt. Schon jetzt, im Chaos-Sommer 2018, bekommt Brüssel die Rechnung präsentiert. Der Flugverkehr müsste dazu gar nicht mehr wachsen – was aber in den nächsten Jahren laut IATA sicher geschehen wird.
Spätestens jetzt im Sommer zeigt sich, wie dringend die Reform ist. 26.000 Flugzeuge kurven im Schnitt täglich am europäischen Himmel. Der Rekord wurde heuer am 29. Juni erreicht, da waren es 36.825 Flüge. Die Flugzeuge bewegen sich aber nicht direkt zu ihren Zielen, sondern müssen Umwege in Kauf nehmen, weil der Luftraum nicht frei verfügbar ist. Grund sind auch militärische Sperrzonen. Die größte Hürde ist, dass der Luftraum in zig Sektoren aufgeteilt ist, die von den jeweils nationalen Flugsicherungen überwacht werden. Von einem Lotsen zum nächsten. Dieses „Kleinstaatensystem“hat zur Folge, dass ein Pilot, wenn er etwa von Frankfurt nach Athen fliegt, viele „Grenzen“passieren muss, dabei von einem Lotsen zum nächsten übergeben wird, der mit einem anderen Sicherungssystem arbeitet. Der Pilot muss daher eventuell die Funkfrequenz, Flugroute und -höhe ändern.
Dass diese Zersplitterung nicht nur Zeit kostet, sondern auch Geld, liegt auf der Hand. Die EU schätzt die direk- ten Kosten auf rund eine Milliarde Euro. Rechnet man noch den Betrieb der vielen Kontrollzentren und IT-Systeme dazu, kommt man auf rund fünf Milliarden. Aber auch die Sicherheit ist ein Thema: Beim Wechsel der Systeme lauern Fehler. Zudem haben die Kontrollsysteme unterschiedliche Sicherheitsniveaus.
Die Antwort der EU lautet daher: Vereinheitlichung. Der Fleckerlteppich in der Luft soll durch neun sogenannte funktionale Luftraumblöcke ersetzt werden, in denen die Länder grenzübergreifend nach den Bedürfnissen der Airlines zusammenarbeiten. Österreich ist mit Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina im Block Central Europe vereint.
Eigentlich sollte der SES in drei Phasen implementiert werden. Schon bis 2012 sollten die Staaten die konkreten Schritte zur Umsetzung festlegen, die rechtlichen Grundlagen vorbereiten und die Blöcke bilden. Davon sind sie weit entfernt – auch wenn sie von der EU wegen Säumigkeit mehrfach gerügt worden sind. Was weitgehend steht, ist das hinter dem SES stehende technologische Begleitsystem Sesar, bei dem das österreichische HightechUnternehmen Frequentis mitmacht.
Dabei mangelt es nicht an Problembewusstsein. Verkehrskommissarin Violeta Bulc forderte im Juli, als sich der Stau am Himmel schon abzeichnete, eine stärkere Kooperation der Länder zur rascheren Umsetzung des SES. Bulc und der Chef des EU-ParlamentsKomitees für Transport und Tourismus, Karima Delli, verlangten ein dringendes „Upgrade“des SES-Programmes. Schon zuvor wurde Bulc deutlich, als sie meinte, Europas Luftfahrt steuere auf einen Stillstand zu, was nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit von Fluglinien und Flughäfen, sondern die gesamte Wirtschaft treffen würde.
Und dennoch: Die Ambitionen der EU stehen nicht im Einklang mit nationalen Interessen. Sie waren und sind die Hürde bei der Realisierung des offenen Himmels. Da halfen bisher weder böse Briefe aus Brüssel noch Rügen des EU-Rechnungshofs, der sich in seinem letzten Bericht vom November 2017 immerhin zur Aussage herabließ, dass die Vereinheitlichung des Luftraums nur schleppend vorankomme, obzwar das Vorhaben mehr als berech- tigt sei. Viele Staaten, vor allem das an Nationalstolz nicht gerade arme Frankreich, fürchten um die Selbstbestimmung, wenn sie die Kontrolle des Luftraums mit ihren Nachbarn teilen müssen. Für die Lotsen ist der SES der Jobkiller schlechthin. Ihre wiederholten Streiks, wie heuer in Frankreich, sind eine Kampfansage gegen ihn. Ein paar Webfehler. Austro-ControlChef Heinz Sommerbauer bringt es auf den Punkt: Das Konzept sei ein richtiger Ansatz, es gebe aber „ein paar Webfehler“. Die Optimierung innerhalb der länderübergreifenden, nachbarschaftlich organisierten funktionalen Luftraumblöcke funktioniere nur dann, wenn ausschließlich das europäische Gesamtziel, unabhängig von Einzelinteressen, im Vordergrund stehe. Das sei aber oft nicht der Fall. „Nachbar zu sein bedeutet auch nicht automatisch, strategischer Partner zu sein. Frankreich und Deutschland können ein Lied davon singen“, sagt Sommerbauer zur „Presse am Sonntag“.
Das »Kleinstaatensystem« hat zur Folge, dass ein Pilot viele Grenzen passieren muss. »Ohne viel Bürokratie, wir haben es einfach gemacht.«
Österreich habe deshalb einen anderen Ansatz gewählt: Fünf Flugsicherungen betreiben gemeinsam mit einem Industriepartner ein gleiches Flugsicherungssystem. Der Austro Control habe dies einen Kostenvorteil von 30 Prozent gebracht. Außerdem wurde mit Partnern am Balkan das „Free Route“-Konzept implementiert. „Ohne viel Bürokratie, wir haben es einfach gemacht.“Sommerbauer ist deshalb überzeugt, dass sich dieses Konzept gegenüber den schwerfälligen funktionalen Luftraumblöcken durchsetzen wird.
Bürokratie: Das sei auch einer der größten Stolpersteine des SES, meinte der Austro-Control-Chef. Dennoch ist er überzeugt, dass Airlines, Airports und Kontrollbehörden ein gesamteuropäisches Programm schaffen müssen. „Nur dann können wir das steigende Verkehrsaufkommen bewältigen.“Es gibt also viel zu tun: Bis 2036 soll sich die Zahl der Flugreisenden allein in Europa auf zwei Milliarden verdoppeln.