Aufstand gegen den Anstand-Tiefstand?
Lieber laut als leise, lieber ich als wir: Zurückhaltung und Selbstbeschränkung stehen nicht hoch im Kurs. Auch nicht in der Politik. Allerdings ist nicht jedes Verhalten, das aufregt, unanständig, sagt Franz Schuh.
auch unsere Kultur anzieht. Wenn wir unsere eigene Kultur verleugnen, begehen wir also Verrat an denen, die bei uns Zuflucht suchen. Diese Alles-istokay-Welt, diese Kultur der völligen Beliebigkeit, der wir ausgeliefert sind, geht eigentlich inzwischen jedem halbwegs vernünftigen Menschen auf den Wecker. Wir können uns glücklich schätzen, in einer Gesellschaft zu leben, die liberaler, weltoffener und toleranter ist als alle Gesellschaften vor uns, aber wenn wir an den Punkt kämen, dass alles gleichermaßen zulässig wäre und nur das Überlieferte als per se überholt und falsch angesehen würde, dann wäre das Projekt der Moderne an sein natürliches Ende gelangt.
Noch eine Vorwarnung: Von Ritterlichkeit und Anstand zu reden, anderen darüber etwas beibringen zu wollen ist natürlich gewagt. Dieses Buch enthält zum Beispiel ein Kapitel über die Tugend des Maßhaltens, eine besonders wichtige Tugend, eine der vier sogenannten Kardinaltugenden. Dieses Kapitel steht hier, obwohl ich gestern Abend drei Nogger gegessen habe, nicht nach, sondern zum Abendessen. Wenn die Autorschaft eines solchen Buches voraussetzen würde, dass der Erzähler von einem Podest moralischer Überlegenheit herabspricht, würde das, fürchte ich, sowohl den Verfasser als auch die Leser überfordern. Es hat immer wieder Bücher wie dieses gegeben, auch gute, und sie sind in den seltensten Fällen von besonders tugendhaften Autoren verfasst worden. [. . .]
Jedes Buch ist auch Eigentherapie. Vielleicht beschreibe ich in diesem Buch nur die Person, die ich gern irgendwann sein würde. Folgenden Satz finde ich da tröstlich: „La civilisation n’est pas encore terminee.“´ Norbert Elias hat diesen Satz seinem Monumentalwerk „Über den Prozess der Zivilisation“vorangestellt. Er wird sich etwas dabei gedacht haben. Wenn Zivilisation kein abgeschlossener Prozess ist, dann ist es meine eigene – und unser aller – Zivilisiertheit auch nicht.
Wo bleibt bitte der Anstand? Taucht die Frage auf, hört Franz Schuh genau hin. Vor allem, wenn Rufzeichen mitschwingen. „Anstand“, sagt der Philosoph und Schriftsteller, „wird gern in Konkurrenzsituationen beschworen, im Sinne von: Wir sind anständig, die Konkurrenten unanständig. Aber das ist wie mit Bescheidenheit zu protzen. Den Anstand-Rufern geht es um Abgrenzung.“Eine Einsicht, auf der diese Art von Anstand basiere, könnte ihnen helfen: Dass – frei nach „Rameaus Neffe“(Diderot) – „alle Arschlöcher sind – auch ich“. Diese Erkenntnis fehlt auch den, so Schuh, Kompensationsanständigen: „Die haben das Bedürfnis, nicht anständig zu sein, sondern so richtig gemein, können aber nicht dazu stehen und rufen daher den Anstand zurück.“
Nichtsdestoweniger wird auch Schuh demnächst über Anstand reden (am Nationalfeiertag bei der Reihe „Kulturvermerke“in Gmunden). Auch geschrieben wird zum Thema fleißig. Dieser Tage erscheint ein Plädoyer für „lässigen Anstand“(s. l.), vorigen Sommer hat Axel Hacke „Über Anstand in schwierigen Zeiten“ein Buch verfasst. Warum treibt der Begriff mit dem Gouvernantenduft (wer will schon eine „anständige Frau“sein?) so viele um? „Man versucht, den Mangel durch Besprechung auszugleichen“, sagt Schuh. Und diagnostiziert ebenso trocken den Grund für den gefühlten Anstand-Tiefstand: „Zurückhaltung und Selbstbeschränkung führen nicht zum Ziel. Wäre es anders, wären alle lammfromm.“
Als plakatives (Erfolgs-)Beispiel des Trends gilt Donald Trump: „Während sich die alten Eliten wie Clinton für Fehler entschuldigt haben, steht Trump jen- seits von Schuld und Unschuld. Sein Motto ist gottgleich: Ich bin, der ich bin. Für ihn gilt: Bringt es Erfolg, ist es moralisch gerechtfertigt, nicht moralisch gewesen zu sein“, so Schuh.
Das klingt für viele attraktiv. Man könne das verstehen, sagt der Philosoph. Denn was die politischen Eliten den Verzweifelten in Detroit oder anderswo gepredigt hätten – „die rationale Ideologie der Sachzwänge“– habe ihnen nicht geholfen. Es gebe die Sehnsucht nach Enthemmung.
Die bemerkt man auch bei jenen, für die alles anständig ist, was nicht verboten ist. „Schlaucherln“, nennt sie Schuh, „die sich aus der Verantwortung herausarbeiten.“Denn der Witz des Anstands ist ja: Er ist eine Selbstverpflichtung. Er greift, wo keine Pflichten im Außen bestehen. Unlösbar. Was aber ist anständig? Die „wirkliche Frage“laute, sagt Schuh: „Was ist das jeweils angemessene Verhalten zu den Mitmenschen?“Das ist gar nicht einfach, die Kategorien Anstand/Höflichkeit sind fließend, manchmal untauglich. Das zeigt der Blick auf Politikereignisse, die im Anstandskontext diskutiert wurden.
Etwa der Auftritt von Kulturminister Gernot Blümel bei den Salzburger Festspielen. Er verlieh den Staatspreis für Europäische Literatur an Zadie Smith, kam jedoch zu spät und ging, bevor sie danken konnte. Unhöflich? Unanständig? Für Schuh: dazwischen. Aber typisch: In Österreich schmücke sich die Politik mit der Kultur, „doch begegnet sie, wie Thomas Bernhard es einprägsam beschrieben hat, den Dichtern mit Verachtung, während sie sich Bankdirektoren mit sabbernder Höflichkeit nähert.“
Kultur.
Darf man als Minister zu früh eine Preisverleihung verlassen?
Flüchtlingsboote.
Lässt sich die Frage mit Anstand lösen?
Politik a. D.
Darf man jahrelang Anstand predigen – und später die Seiten wechseln?
„Mit Absicht unständig“ist für Schuh der „torkelnde Juncker“-Sager von FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky. Egal, ob der Alkoholismus-Verdacht zutrifft. Denn sogar wenn der Mann Trinker wäre, wäre seine Beschimpfung therapeutisch kontraproduktiv: „Der politische Feind wollte ihn zum Freiwild erklären, die Grenzen des Sagbaren verschieben.“
Anstand ist aber nicht immer die passende Kategorie. Ist es unanständig, Flüchtlingsschiffe, deren Passagiere in schlechtem Zustand sind, nicht anlegen zu lassen? „Anstand deckt diese Frage nicht ab“, sagt Schuh, „es geht um den Konflikt zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Es gibt hier keine Lösung. Entschieden wird es durch die Machtverhältnisse, wobei die Gesinnungsethiker durch Mobilisierung der Emotionen Situationen drehen können.“
Eva Glawischnigs Wechsel zu Novomatic subsumiert Schuh wiederum unter „Gusenbauer-Syndrom“: „Die haben das Gefühl, sie waren lang anständig und es hat ihnen keiner gedankt. Jetzt wollen sie Kohle machen. Verständlich.“
Am besten gefällt ihm aber ein anderes Beispiel. Wolfgang Ambros bekam nach deftiger Kritik an der FPÖ Morddrohungen, der FPÖ-Generalsekretär Hafenecker nannte ihn „Systemgünstling“. Die Folge: Ambros stürmte die Charts. Und die FPÖ? Entdeckte das Anstands-Splitting: Ein Generalsekretär habe eben andere Aufgaben und eine andere Wortwahl als ein Regierungsmitglied, argumentierte Norbert Hofer und outete sich als Ambros-Fan. „Was wunderbar zeigt“, so Schuh, „wenn das Schimpfen nicht mehr hilft, regelt man sein Problem mit Anstand.“